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Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)

Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)

Titel: Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Nürnberger
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entsteht, zumindest als Idealvorstellung, eine neue Welt, in der gilt: Hier herrscht kein Despot, sondern Gott. Wir haben keinen König, brauchen keinen König, keinen Staat und keinen Führer, weil Gott unser Führer ist. Wir leben als freie Stämme friedlich zusammen, helfen und unterstützen uns gegenseitig bei Unwetter, Gefahr und Katastrophen und beschließen gemeinsam, was zu beschließen ist.
    Eine Art Eidgenossenschaft entsteht, und alles, was sich dieses Volk als neue Regel setzt, läuft in der Begründung stets auf die Erinnerung an Ägypten hinaus nach dem Schema: In Ägypten war es so, und darum machen wir in Israel das Gegenteil. Und da es überall auf der Welt so zuging wie in Ägypten, entstand jetzt in Israel tatsächlich eine Gegenwelt. Seitdem gibt es zwei Welten, die große alte und eine kleine neue. Aber so klein sie auch angefangen hat, so groß waren ihre Folgen.
    Dass Israels Herkunft von ganz unten sich unvergesslich ins kollektive Gedächtnis eingräbt und zum Mittelpunkt seines regelmäßig wiederholten Urbekenntnisses wird, versteht sich keineswegs von selbst. Das ist erstaunlich, denn andere hätten Ägypten spätestens in der vierten Generation vergessen. Die Juden dagegen erinnern sich noch heute daran, die Christen auch, und diese Erinnerung strukturierte die neue Welt.
    Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat aus dem Sklavenstaat (5 Mose 5, 6), so werden die Zehn Gebote eingeleitet, und schon dadurch bekommen diese Gebote einen anderen Charakter und haben eine andere Intention als ähnliche Gebote in anderen Kulturen.
    «Wenn dich morgen dein Sohn fragt: Warum haltet ihr euch an die Satzungen, Gesetze und Rechtsbestimmungen, unter die der Herr, unser Gott, euch gestellt hat?», dann sollst du deinem Sohn antworten: «Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten, und es war der Herr, der uns mit starker Hand aus Ägypten geführt hat.» (5 Mose 6, 20–21) So, sagt Gott, sollt ihr eure Kinder lehren, und diese sollen es ihren Kindern weitersagen. Und so wird es seit drei Jahrtausenden gemacht bis auf den heutigen Tag.
    Das einst versklavte Volk hatte erkannt: Die Herrschaft der Starken über die Schwachen ist eine Folge der natürlichen Ungleichheit zwischen den Menschen. Es wird immer Menschen geben, die intelligenter, fleißiger, größer, schöner als die anderen sind und ihren Platz an der Sonne haben, während die anderen im Dunkeln stehen. Aber vor Gott sind alle gleich. Daraus leitet sich die unerhörte, zu allen Zeiten als widernatürlich diffamierte Forderung ab: Für jeden muss es einen Platz an der Sonne geben. Die Behauptung, der Platz reiche nicht für alle, wird als propagandistische Lüge derer entlarvt, die möglichst viel davon für sich allein beanspruchen.
    In Ägypten fühlten sie sich wehrlos, schwach und fremd. Dort hatten sie erfahren, dass sich die Menschheit in zwei Klassen teilt: in jene, die die Peitsche schwingt, und in jene, über die sie geschwungen wird. Treten oder Getretenwerden, Gewinnen oder Verlieren, Hammer oder Amboss sein – gegen diese scheinbar natürliche Ordnung der Welt setzte Israel sein großes «Hier nicht!» Darum gilt jetzt das Gesetz: Den Fremdling sollst du nicht bedrängen noch bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen im Land Ägypten. (2 Mose 22, 20) Und: Ihr sollt keine Witwen und Waisen bedrücken . (2 Mose 22, 21) Wenn ein Schuldner dem Gläubiger das einzige Obergewand als Pfand gegeben hatte, so musste der Gläubiger das Pfand vor Sonnenuntergang wieder zurückbringen, damit der Schuldner in der Nacht nicht friere. Tags darauf durfte das Gewand vom Gläubiger wieder zurückgefordert werden, bis zum nächsten Sonnenuntergang.
    Es darf keine Armen, keine Unterdrückten und keine Benachteiligten mehr geben in der neuen Welt, die jetzt entsteht. Der Wüste, wo der Normalzustand herrscht, will dieses Volk eine Oase abtrotzen, deren Regel der Ausnahmezustand sein wird.
    Dazu erfand Israel das «Sabbatjahr», ein sensationelles Instrument der Sozialpolitik. Alle sieben Jahre musste den Schuldnern die Schuld erlassen und die Verteilung des Ackerlandes neu verlost werden. Danach konnte das Monopoly von neuem beginnen, aber nach sieben Jahren erhielt der Verarmte zurück, was er an den Reichen verloren hatte. So bekämpfte Israel die Macht des Schicksals.
    Wer heute die Praktizierung dieser Methode vorschlüge, liefe Gefahr, in die Psychiatrie eingeliefert zu werden. Man stelle sich nur einmal vor,

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