Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
war bei diesem eigenwilligen Volk schon eingeführt, und zwar schärfer als wir es kennen. Gerichtsvollzieher hätten in Israel keine Chance gehabt, ins Haus zu kommen: Wenn du deinem Nächsten irgendein Darlehen gewährst, so sollst du nicht in sein Haus gehen, um ihm ein Pfand abzunehmen, sondern draußen stehen bleiben. Der, dem du borgst, soll das Pfand zu dir herausbringen .
Durch manche Vorschriften der Tora schimmert noch heute eine unüberbietbare Menschlichkeit: Ein Mann, der gerade erst geheiratet hat, darf nicht zum Wehrdienst eingezogen werden, weil der Dienst an seiner Familie wichtiger ist und er seine Frau erfreuen soll.
Dass zu den Opfermahlzeiten die Armen, Fremden, Witwen und Waisen eingeladen werden mussten, war eine unerhörte Neuerung, deren Bedeutung wir satten Wohlstandsbürger gar nicht mehr richtig ermessen können. Sogar die bessergestellten Handwerker und Bauern konnten sich gebratenes und gekochtes Fleisch nur zu besonderen Anlässen leisten, die ärmeren überhaupt nicht. Aber bei den Schlachtopfern, bei denen ein kleinerer Teil verbrannt und der größere Teil gegessen wurde, kamen die Armen in den Genuss von Fleisch und machten dadurch die Erfahrung, dass Gott tatsächlich alle satt macht und die Feste zu Ehren Gottes mit Lust und Freude verbunden sind.
Der Sinn des Sabbats lag nicht nur im Ausruhen, nicht nur in der Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten und nicht nur in der regelmäßigen Selbstvergewisserung Israels als Volk Gottes, sondern vor allem in dessen Alleinverehrung. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen . (2 Mose 20, 5) Das ist das erste Gebot, die zentrale Dienstvorschrift des Volkes Gottes, um die herum die Tora wuchs.
Das ist nicht bloß ideell oder spirituell gemeint, sondern ganz materialistisch. Den Gegensatz zwischen Sonntagsreden und Alltagshandeln gibt es hier nicht. Was am Sabbat gesagt wird, muss werktags gemacht werden. Eine zweigeteilte Wirklichkeit, wie sie bei uns heute üblich ist – zu Hause in der Familie und in der Freizeit bin ich Christ und diene Gott, draußen in der Welt und im Job stehe ich unter einem anderen Gesetz, bin Profi und Heide und diene meinem renditeorientierten Unternehmen –, war in Israel undenkbar. Man kann nicht zwei Herren gleichzeitig dienen. Weil das nicht sein darf, muss auch das Unternehmen dienstverpflichtet und Gott unterstellt werden, und dieses wäre dann etwas völlig anderes als der Betrieb, den wir Marktwirtschaft oder Kapitalismus nennen und dem zu dienen die meisten von uns verpflichtet sind.
Ein Leben unter Gott darf keinen Bereich der Wirklichkeit aussparen. Es geht ganz materiell und diesseitig zur Sache. Der Bund mit Gott ist keine Angelegenheit des bloß Geistigen, Innerlichen, das sich ins Jenseits hinüberspiritualisiert oder sich in Herz und Gewissen hinein verflüchtigt. Vielmehr muss dieser Bund sich in der Welt in materiell wahrnehmbaren Strukturen manifestieren. Darum werden Leben und Alltag von der Tora im Großen wie im Kleinen geregelt. Die Steuern, die Gerichtsbarkeit, das Erbrecht, die soziale Fürsorge und die kommunale Organisation sind ebenso ein Thema wie die Behandlung des Viehs, der Bau von Dachterrassen, die Rasur, der Haarschnitt, die Zubereitung von Speisen, das gerechte Wiegen oder eine Verordnung über Vogelnester. Israel muss wissen, was von morgens bis abends zu tun ist, um das große Ziel zu erreichen, und eben dafür gibt es die Tora, das Gesetz.
Es ist kaum vorstellbar, dass dieses Gesetz so entstanden ist, wie es in der Bibel erzählt wird. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Mose von einem Berg heruntergekommen ist, mit zwei Tafeln in der Hand, und dem Volk gesagt hat: Hier steht das Gesetz Gottes, und jetzt will er von euch wissen, ob ihr es annehmt. Es ist nicht einmal gewiss, ob Mose überhaupt jemals wirklich existiert hat.
Daher ist es eigentlich auch ausgeschlossen, dass ein ganzes Volk sagt: Wir sind ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Und doch steht genau dies im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in zahlreichen anderen Verfassungen demokratischer Länder. Es hat eine Weile gedauert, bis die Sinaigesetze bei uns angekommen sind und ihnen Geltung verschafft wurde. Aber jetzt existieren sie wirklich, obwohl wir nicht genau sagen können, wie es dazu gekommen ist.
Könnte es nicht doch daran liegen, dass ein Gott seine Hand im Spiel gehabt hat?
DIE KÖNIGE: ISRAEL UND DER GRIFF
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