Das Daemonenschiff
Nordmann finster anzufunkeln.
»Und jetzt rudert weiter«, befahl Thure. »Wir haben noch
einen weiten Weg vor uns.«
3
Es war das zweite Mal, dass er bei grauem Zwielicht erwachte
und das Gefühl hatte, viel zu lange geschlafen zu haben. In seinem Mund war auch jetzt wieder ein schlechter Geschmack, und
jeder einzelne Muskel in seinem Rücken und seinen Oberarmen
war verkrampft und schmerzte.
Aber es gab einen Unterschied, und der war höchst angenehmer Natur: Ihm war warm.
Andrej widerstand dem Impuls, die Augen zu öffnen und sich
umzusehen, sondern genoss für einen Moment das Gefühl, zum
ersten Mal seit einer schieren Ewigkeit nicht mehr zu frieren. Er
lag auf etwas Weichem, und etwas Flauschiges bedeckte seinen
Körper. Köstliche, süße Wärme hüllte ihn ein, und nur einen
Augenblick später roch er, was er seit langer Zeit vermisst hatte
– den verlockenden Duft von gebratenem Fleisch, der ihm in die
Nase stieg.
Andrej lag weiter mit geschlossenen Augen da und beobachtete
das allmähliche Erwachen seiner Sinne. Er hörte jetzt Geräusche,
banal und alltäglich und gerade deshalb so wundervoll: ein
gleichmäßiges Hämmern und Klingen, fröhliche Stimmen, ohne
dass er die Worte verstehen konnte, das Bellen eines Hundes und
tausend andere Laute, von denen er erst jetzt wirklich begriff, wie
sehr sie ihm gefehlt hatten. Er musste im Paradies sein. Wahrscheinlich war er ertrunken oder vor Erschöpfung über dem Ruder zusammengebrochen und gestorben, und alles, was man sich
über das Leben auf der anderen Seite erzählte, entsprach der
Wahrheit. Warum hatten sich Abu Dun und er eigentlich so lange
Zeit und so verbissen dagegen gewehrt, diese Welt zu betreten?
Dieser Gedanke ließ Andrej flüchtig lächeln, dann schlug er
die Augen auf und war nun endgültig sicher, im Paradies zu
sein, denn er blickte geradewegs in das Gesicht eines Engels.
Er stand neben seinem Bett (er lag tatsächlich in einem richtigen Bett, nicht auf nacktem Fels oder steinhart gefrorenem Boden!) und sah mit einem warmen, aber gutmütigspöttischen Lächeln auf ihn herab. Er hatte blondes Haar, das sich – genau, wie
es sich für einen Engel gehörte – in wilden Locken über seine
Schultern und den Rücken hinab ergoss, ein schmales, mädchenhaftes Gesicht, von dem Andrej annahm, dass es deutlich
älter war, als es auf den ersten Blick aussah, und das trotz aller
Jugendlichkeit einen strengen Zug hatte (aber auch das erwartete
Andrej bei einem Mitglied der himmlischen Heerscharen), der
seiner Schönheit aber keinen Abbruch tat, und sinnliche Lippen.
Statt eines weißen Seidengewandes trug er jedoch ein einfaches,
eng um die Taille geschnürtes wollenes Kleid, das irgendwann
einmal blau gewesen sein mochte, vor langer Zeit jedoch schon
begonnen hatte, zu einem unansehnlichen Grau zu verblassen
und an zahlreichen Stellen abgewetzt war. Außerdem hatte er
keine Flügel.
»Wenn du fertig damit bist, Andrej Delãny«, sagte der Engel,
sanft aber nicht in einem himmlischen Dialekt, sondern in der
harten Sprache der Nordmänner, »soll ich dir dann etwas zu
Essen bringen, oder eine Schale mit Wasser, damit du dich
waschen kannst?«
Andrej blinzelte, stemmte sich umständlich auf beide Ellbogen
hoch und sah an sich herab, als das Fell, unter dem er aufgewacht war, von seiner Brust rutschte. Er trug nichts darunter.
Seltsam – er konnte sich weder erinnern, sich ausgezogen zu
haben, noch daran, wie er hierher gekommen war.
»Keine Sorge, Andrej«, sagte der Engel belustigt. »Deine Tugend war keinen Moment in Gefahr. Dein Freund hat dich ausgezogen.«
Andrej setzte sich noch ein Stück weiter auf, zog die Knie an
und ohne sich der Bewegung richtig bewusst zu sein das Fell
wieder ein Stück höher. Das Lächeln des Engels wurde spöttisch.
»Woher kennst du meinen Namen?«, fragte er.
Der Engel beugte sich vor. »Weil du ihn meinem Bruder genannt hast?«
Andrej schüttelte nur den Kopf. »Nur meinen Vornamen.«
»Dein Freund hat ihn mir genannt …« Für einen kurzen Moment sah der Engel betroffen aus. »Das war doch nicht etwa ein
Fehler? Ich meine: Ihr seid keine Hexer oder so etwas, über die
man Macht erlangt, wenn man ihren richtigen Namen kennt?«
Die Frage erschreckte Andrej, aber er spürte auch, dass der
Engel ihn nur gutmütig verspotten wollte. Er schüttelte den
Kopf und schwang die Beine vom Bett, wobei er weiterhin sorgsam darauf achtete, das Fell eng um sich geschlungen zu halten
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