Das Daemonenschiff
Aber das stimmte nicht. Es war früher
Vormittag. Ein kühler Wind, der nach Salzwasser roch, traf sein
Gesicht, aber die Sonne hatte auch spürbare Kraft.
Urd, die seine Überraschung spürte, blieb stehen und sah –
schon wieder mit einem spöttischen Lächeln – zu ihm hoch.
»Was erstaunt dich so?«
»Du bist eine gute Beobachterin«, sagte Andrej anerkennend.
»Ich war nur …« Er suchte einen Moment nach Worten. »Mir
war nicht klar, dass wir so weit gefahren sind.« Tatsächlich war
er mehr als erstaunt. An den Rest der Reise hatte er nur nebelhafte Erinnerungen, vor allem die, Stunde um Stunde um Stunde
am Ruder gesessen zu haben, eine Arbeit, die Thures Männer zu
zweit verrichteten und manchmal sogar schliefen oder nur mit
leeren Gesichtern dasaßen, ins Nichts starrten und neue Kräfte
schöpften. Die Fahrt hatte lange gedauert, sicherlich einen oder
auch zwei Tage, auch wenn es auf dem erstarrten Himmel keine
Möglichkeit gab, das Verstreichen der Zeit zu messen. Aber so
lange?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Urd mit großem
Ernst, wenngleich freundlich lächelnd: »Nein, so lange wart ihr
nicht unterwegs. Keine Sorge. Die Insel, auf der mein Bruder
euch gefunden hat, liegt schon auf halbem Wege nach Utgard.«
Ihr Ton ließ erkennen, dass es sich um einen Ort handelte, den
jedermann kennen sollte.
»Utgard?«, wiederholte Andrej.
»Dort sind die Dinge …« Jetzt war sie es, die einen Moment
zögerte. »… etwas anders. Mein Vater wird dir alles erklären.
Jetzt komm.«
Während er dem Mädchen folgte, sah sich Andrej aufmerksam
um. Das Haus, in dem er erwacht war, gehörte zu einem kleinen,
nur aus einer Handvoll Gebäude bestehenden Dorf, das sich auf
einem schmalen, felsigen Uferstreifen zwischen dem Meer und
einem sanft ansteigenden, bewaldeten Hang befand. Ein aus
schweren Balken gezimmerter Steg führte ins Wasser hinaus,
und Andrej erblickte nicht nur das große Drachenboot, mit dem
sie hergekommen waren, sondern noch zwei weitere, gleichartige Schiffe. Er hörte Stimmen und die Geräusche emsigen Hantierens zahlreicher Menschen, sah aber nur eine einzige Person,
ein vielleicht zehnjähriges Kind, das mit wehendem Haar aus
einem Haus gestürmt kam und dann mitten in der Bewegung
innehielt, um ihn entsetzt anzustarren. Andrej lächelte freundlich
und der Junge fuhr auf dem Absatz herum und verschwand
wieder im Haus. Er konnte seine helle, erschrockene Stimme
hören.
»Mach dir nichts draus, Andrej Delãny«, sagte Urd lächelnd.
»Wir sind den Anblick von Fremden hier nicht gewohnt, das ist
alles.«
Andrej schwieg. Auch ihm war diese Reaktion auf seinen
Anblick nicht ganz fremd, obwohl sie zumeist eher Abu Dun
galt, dessen nachtschwarze, riesenhafte Erscheinung auch so
manchen vermeintlich tapferen Mann einzuschüchtern vermochte. Dennoch, und das war seltsam, schmerzte ihn die Furcht des
Kindes.
Er verscheuchte den Gedanken und setzte stattdessen die stumme Musterung seiner Umgebung fort. Sehr viel gab es allerdings
nicht mehr zu sehen. Die Ansiedlung bestand aus weniger als einem Dutzend Häuser, die allesamt gedrungen und wuchtig aussahen, aus schweren Balken zusammengefügt, mit kleinen Fenstern und massiven Türen und Strohdächern, die mit Steinen beschwert waren, um dem unablässig drückenden Wind und den
heftigen Stürmen standzuhalten. Am anderen Ende des Dorfes
stritt sich eine Handvoll magerer Schafe um die kümmerlichen
Grashalme und ein noch magererer Hund lief ihnen ein paar
Schritte weit kläffend hinterher, trollte sich dann aber mit
eingezogenem Schwanz, als Andrej ihm einen kurzen Blick
zuwarf. Es gab nur ein einziges wirklich großes Gebäude, von
dem er annahm, dass es Urds und Thures Vater gehörte. Aus
einem anderen stieg grauer Qualm, so heftig und dicht, dass
Andrej im ersten Moment glaubte, sein Dach wäre in Brand
geraten. Urd, die darauf zusteuerte, zeigte jedoch keinerlei
Anzeichen von Schrecken oder Hast, und so folgte er ihr still.
Aber er ertappte sich dabei, unauffällig ein kleines Stück zurückzufallen, sodass Urd nun vor ihm ging und er sie betrachten
konnte. Unter dem groben, verschlissenen Kleid war ihre Gestalt
nicht genau zu erkennen, aber Andrej spürte, dass sie ebenso
wunderschön und mädchenhaft wie stark sein musste, so wie es
ihre Gesichtszüge bereits vermuten ließen.
Urd beschleunigte auf dem letzten Stück ihre Schritte, sodass
sie das Haus vor ihm erreichte und die Tür öffnen
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