Das Daemonenschiff
an ihm vorübereilte.
Das musste Werdandi sein, nach der Thure verlangt hatte.
Andrej schätzte sie auf mindestens sechzig, wenn nicht siebzig
oder mehr Jahre. Sie hatte die zerbrechliche und deutlich
gebeugte Gestalt sehr alter Menschen, bewegte sich aber mit der
flüssigen Schnelligkeit eines Mädchens und sie gab ihre
Anweisungen wie jemand, der es nicht gewohnt war, seine
Worte wiederholen zu müssen. Selbst Thure sprang auf und
machte ihr respektvoll Platz. Andrej vermutete, dass sie die
Heilerin des Dorfes war. Seltsam genug – in all der Zeit, die
Abu Dun und er jetzt hier waren, hatte er die alte Frau kein
einziges Mal zu Gesicht bekommen, und das, obwohl die
gesamte Sippe weniger als hundert Köpfe zählte.
Werdandi beugte sich über Urd, berührte ihre Stirn mit zwei
Fingern und blieb einen Atemzug lang mit geschlossenen Augen
und wie in sich hineinlauschend stehen. Auch Andrej lauschte,
und nicht nur mit seinen menschlichen Sinnen. Da … war etwas, aber er konnte nicht sagen, was. Verwirrt und ein
bisschen aufgeschreckt sah er die alte Frau an, doch Werdandi
richtete sich mit einem plötzlichen Ruck wieder auf und machte
eine befehlende Geste zu Thure.
»Geh und such nach Skuld!«, verlangte sie. »Ich brauche Sie
hier! Schnell! Und alle anderen verschwinden! Auf der Stelle!«
Tatsächlich gehorchten die meisten unverzüglich, und auch
Thure eilte mit großen Schritten um das Bett herum, blieb neben
Andrej stehen und sah ihn ungeduldig an. Andrej aber wollte
nicht gehen. Der Anblick des sterbenden Mädchens brach ihm
schier das Herz, aber sie allein zu lassen wäre noch schlimmer
gewesen.
»Und du auch, Andrej Delãny«, sagte Werdandi. »Geh! Ich
lasse dich rufen, sobald es ihr besser geht!«
Andrej wollte widersprechen, doch Thure griff ihn grob am
Arm und zerrte ihn mit sich, fort von Urd und aus dem Haus.
Andrej fand in dieser Nacht keinen Schlaf mehr. Niemand auf
der kleinen Insel tat das, abgesehen von denen, die nie wieder
erwachen würden und sich in diesem Augenblick schon auf dem
Weg nach Walhalla befanden, um zur Rechten eines Gottes
Platz zu nehmen, dessen Grausamkeit nur noch von seiner
Verachtung denen gegenüber übertroffen wurde, die ihm ihr
Leben geweiht hatten.
Genau wie Abu Dun hatte er sich einem von mehr als einem
Dutzend Suchtrupps angeschlossen, die die kleine Insel von
einem Ende zum anderen durchkämmten, um nach weiteren
Feinden Ausschau zu halten; eine Aufgabe, von der wohl nicht
nur Andrej genau wusste, wie sinnlos sie war. Aber er war auch
nicht der Einzige, der es in dieser Nacht nicht ertragen hätte,
tatenlos zu sein oder sich gar schlafen zu legen, als wäre gar
nichts geschehen.
Allein dreimal in dieser Nacht war er zur Schmiede zurückgekehrt, um nach Urd zu sehen, doch Thure hatte zwei Krieger vor
der Tür postiert, die jedem – ihn eingeschlossen – mit ausgesuchter Höflichkeit, aber auch unerbittlich den Einlass
verwehrten, und so hatte er die Insel ein zweites und ein drittes
und schließlich sogar ein viertes Mal nach etwas abgesucht, von
dem er wusste, dass es nicht da war. Das gute Dutzend Männer,
das ihn am Anfang begleitet hatte – die meisten stammten aus
dem Dorf, sodass er zumindest ihre Gesichter, wenn schon nicht
ihre Namen kannte – war mittlerweile auf zwei Köpfe zusammengeschmolzen, und auch diese beiden Männer schleppten
sich schon seit einer geraumen Weile mehr dahin, als sie gingen.
Andrej musste immer öfter langsamer gehen, damit sie wieder
zu ihm aufschließen konnten.
Schließlich war er es leid, Rücksicht auf die Männer zu nehmen, von denen er ohnehin spürte, dass sie nur noch mit ihm
Schritt zu halten versuchten, weil sie sich verpflichtet fühlten,
längst nicht mehr, weil sie es wollten.
War es Zufall, dass er ausgerechnet wieder den kleinen Quellsee erreicht hatte, als das Schwarz der Nacht dem ersten
Trübgrau der kalten Dämmerung zu weichen begann? Wahrscheinlich nicht. Er war in dieser Nacht ein Dutzend Mal an ihm
vorbeigekommen, als lenke ein Teil von ihm seine Schritte, nur
um ihn zu quälen. Und plötzlich hatte er das Bedürfnis, allein zu
sein.
Er blieb stehen und wartete, dass das Stolpern müder Schritte
hinter ihm wieder lauter wurde, doch stattdessen hörte er ein
anderes, beinahe schon vertrautes Geräusch: das Schlagen
großer Flügel irgendwo über sich am Himmel, gefolgt von
einem zaghaften Krächzen und einem Huschen, als glitte etwas
durch die Baumwipfel.
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