Das Darwin-Virus
notwendige Geräuschkulisse. Werbung für Tampons und Haarfestiger. Sie hatte den Kopf voller anderer Dinge – die Abschlussveranstaltung, ihr Auftritt auf dem Podium mit Marge Cross und Mark Augustine.
Mitch.
Als sie nach einem schönen Paar Nylonstrümpfe suchte, hörte sie, wie eine Frau sagte: »… erste Kind ausgetragen. Um es allen unseren Zuschauern deutlich zu sagen: Heute Morgen hat eine nicht namentlich bekannte Frau in Mexico City das erste wissenschaftlich anerkannte Herodes Baby der zweiten Stufe zur Welt gebracht. Live aus …«
Plötzlich zuckte Kaye zusammen: Es klang nach berstendem Metall und splitterndem Glas. Sie zog den dünnen Fenstervorhang zur Seite und blickte nach Norden. Auf dem West Harbor Drive drängte sich vor dem Serrano Hotel und dem Kongresszentrum eine dichte Menschenmenge, eine kompakte, fließende Masse, die sich über Gehwege, Rasen und Freiflächen ergoss und Autos, Hoteltransporter und Pendelbusse verschlang. Der von diesen Menschen verursachte Lärm klang selbst durch die doppelten Scheiben ungewöhnlich: Es war ein tiefes, raues Rumoren, wie bei einem Erdbeben. Über der Menge flatterten weiße Vierecke, grüne Bänder bogen und wellten sich: Transparente und Plakate. Von hier oben im zehnten Stock konnte sie die Aufschriften nicht lesen.
»… offensichtlich tot geboren«, fuhr die Fernsehsprecherin fort.
»Wir werden Sie über die neuesten Entwicklungen …«
Wieder klingelte ihr Telefon. Sie nahm den Hörer ab und zog am Kabel, damit es bis zum Fenster reichte. Sie konnte den Blick nicht von dem lebenden Strom vor ihrem Hotel wenden. Da unten wurden Autos umgeworfen; sie lagen auf dem Dach, und als die Menge sich vorwärts schob, hörte sie wieder, wie Glas zu Bruch ging.
»Ms. Lang, hier ist Stan Thorne, der Sicherheitschef von Marge Cross. Kommen Sie bitte hier zu uns in die zwanzigste Etage, ins Penthouse.«
Die brodelnde Masse unten brüllte mit einer einzigen Stimme, es klang, als schreie ein Tier.
»Nehmen Sie den Expressaufzug«, sagte Thorne, »und wenn der blockiert ist, nehmen Sie die Treppe. Kommen Sie jetzt sofort rauf.«
»Ich bin gleich da«, sagte Kaye.
Sie zog sich die Schuhe an.
»Heute Morgen, in Mexico City …«
Noch bevor sie den Aufzug betrat, wurde ihr ganz flau im Magen.
Mit hängenden Schultern, die Hände in die Hosentaschen vergraben, stand Mitch gegenüber dem Kongresszentrum auf der anderen Straßenseite und versuchte, so unbeteiligt und anonym wie möglich zu wirken.
Die Menge suchte nach Wissenschaftlern, Behördenvertretern und allen, die mit der Tagung zu tun hatten, stürzte sich auf sie, schwenkte Spruchbänder und schrie sie an.
Er hatte das Namensschild abgenommen, das Dicken ihm gegeben hatte; mit seinen verwaschenen Jeans, dem sonnengebräunten Gesicht und den wirren, dunkelblonden Haaren sah er so ganz anders aus als die unglückseligen, blasshäutigen Wissenschaftler und Pharmareferenten.
Die Demonstranten waren vorwiegend Frauen; alle Hautfarben und Größen waren vertreten, aber fast alle waren jung, zwischen achtzehn und vierzig. Es schien, als hätten sie jeden Sinn für Disziplin verloren. Ungezügelter Zorn machte sich breit.
Mitch erschrak, aber im Augenblick bewegte sich die Menge nach Süden, und er konnte sich frei bewegen. Mit schnellen, steifen Schritten lief er vom Harbor Drive die Rampe einer Tiefgarage hinunter; er sprang über eine Mauer und stand auf einmal in einer schmalen Grünanlage zwischen den Hochhaushotels.
Eher aus Bestürzung als wegen der körperlichen Anstrengung schnappte er nach Luft, Menschenansammlungen hatte er immer schon verabscheut. Er stapfte zwischen dem Eiskraut hindurch, kletterte über eine weitere Mauer und ließ sich auf den Betonboden eines Parkhauses hinunterfallen. Ein paar Frauen sahen ihn verblüfft an und liefen dann unbeholfen zu ihren Autos. Eine von ihnen trug ein herabhängendes, mitgenommenes Spruchband. Als es vorüberflatterte, las Mitch die Worte: UNSER KÖRPER – UNSER SCHICKSAL.
Nervtötendes Sirenengeheul hallte in der Garage wider. Mitch hatte gerade die Tür zum Fahrstuhlschacht aufgestoßen, als drei uniformierte Wachleute die Treppe heruntergestürmt kamen. Sie bogen mit gezogener Pistole um die Ecke und starrten ihn an.
Mitch hob die Hände und hoffte, dass er unschuldig wirkte. Sie fluchten und schlossen die gläsernen Doppeltüren ab. »Rauf da!«, fuhr der eine ihn an.
Die Wächter unmittelbar hinter sich, stieg er die Treppe hinauf.
Von
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