Das Darwin-Virus
Prüfung nicht bestanden.« Er blickte bedeutungsschwer nach oben. »Zurück in die himmlische Kinderstube.«
Dicken wusste nicht genau, ob Voight tiefe philosophische Überzeugungen oder den typischen Medizinerzynismus zum Ausdruck brachte. Er verglich den kalten Kolben und das Gefäß mit Zimmertemperatur. Beide Feten waren zwölf Wochen alt und ähnelten sich stark.
»Kann ich den hier mitnehmen?«, fragte er und hob den kalten Kolben hoch.
»Was, Sie wollen unsere Medizinstudenten bestehlen?« Voight zuckte die Achseln. »Geben Sie Ihre Unterschrift, bezeichnen Sie es als Leihgabe an die CDC, das dürfte kein Problem sein.« Er sah sich noch einmal das Gefäß an. »Etwas Bedeutsames?«
»Vielleicht«, erwiderte Dicken mit einem leichten Anflug von Erregung, in die sich Traurigkeit mischte. Voight gab ihm ein weniger zerbrechliches Gefäß, eine kleine Pappschachtel, Watte und ein Stück Eis in einem verschweißten Plastikbeutel, damit die Probe kalt blieb. Schnell überführten sie das Material mit zwei hölzernen Zungenspateln, danach verschloss Dicken die Schachtel mit Klebeband.
»Wenn Sie noch mehr von der Sorte bekommen, sagen Sie mir sofort Bescheid, okay?«, fragte Dicken.
»Aber sicher.« Im Aufzug fragte Voight: »Sie sehen ein bisschen merkwürdig aus. Gibt es etwas, das ich schon frühzeitig wissen sollte, einen kleinen Hinweis, damit ich meine Aufgabe gegenüber den Patienten besser erfüllen kann?«
Dicken wusste, dass er die ganze Zeit ein ausdrucksloses Gesicht gemacht hatte; deshalb lächelte er Voight nur an und schüttelte den Kopf. »Erfassen Sie alle Fehlgeburten«, sagte er, »vor allem diesen Typ. Jeder Zusammenhang mit der Herodes-Grippe wäre eine tolle Sache.«
Voight verzog enttäuscht die Lippen. »Bisher nichts Offizielles?«
»Bisher nicht«, erwiderte Dicken. »Ich arbeite an einer recht langfristigen Sache.«
15
Boston
Das Abendessen – Spaghetti und Pizza mit Sauls alten Kollegen vom MIT – verlief großartig. Saul war am Nachmittag nach Boston geflogen, und sie hatten sich im »Pagliacci« getroffen. Es war noch früh am Abend, und die Gesprächsthemen in dem alten, düsteren italienischen Restaurant reichten von der mathematischen Analyse des menschlichen Genoms bis zur chaosgestützten Voraussage für Systole und Diastole der Datenströme im Internet.
Kaye war von Grissini und grünem Paprika schon satt, bevor ihre Lasagne überhaupt kam. Saul mummelte an einem Stück Brot mit Butter.
Um neun Uhr, unberechenbar wie immer, erschien Dr. Drew Miller, eine der Berühmtheiten aus dem MIT. Er hörte aufmerksam zu und streute ein paar Bemerkungen über das aktuelle Thema des Sozialverhaltens von Bakterien ein. Saul lauschte gespannt, was der sagenumwobene Wissenschaftler, ein Experte für künstliche Intelligenz und selbstorganisierende Systeme, zu sagen hatte.
Miller wechselte mehrmals den Stuhl und tippte schließlich Sauls altem Zimmerkollegen Derry Jacobs auf die Schulter. Jacobs grinste, stand auf und suchte sich einen anderen Platz, während Miller sich neben Kaye setzte. Er nahm eine Gebäckstange von Jacobs’ Teller, starrte sie mit großen Kinderaugen an, verzog die Lippen und sagte: »Da hast du den alten Gradualisten ganz schön eins auf den Hut gegeben!«
»Ich?«, fragte Kaye lachend. »Wieso denn das?«
»Die Zöglinge von Ernst Mayr schwitzen Blut und Wasser, wenn sie überhaupt etwas merken. Dawkins ist völlig außer sich.
Ich sage ihnen schon seit Monaten, dass wir nur noch ein einziges Kettenglied brauchen, und schon haben wir eine Rückkopplungsschleife.«
Gradualismus ist die Lehre, wonach Evolution in kleinen Schritten verläuft: Über Jahrtausende oder Jahrmillionen hinweg sammeln sich Mutationen an, die für das Individuum in der Regel schädlich sind. Selektioniert werden aber nur die nützlichen Mutationen, die ihrem Träger einen Vorteil verschaffen, weil er Ressourcen besser nutzen und sich effizienter fortpflanzen kann. Ernst Mayr war ein wortgewaltiger Fürsprecher dieser Auffassung gewesen, und Richard Dawkins hatte sie in der modernen Synthese des Darwinismus ausgezeichnet vertreten; außerdem hatte er die so genannten egoistischen Gene beschrieben.
Als Saul das hörte, stand er auf und stellte sich hinter Kaye. Er beugte sich über den Tisch, um kein Wort von Miller zu verpassen. »Sie glauben, SHEVA erzeugt eine Rückkopplungsschleife?«, fragte sie.
»Ja. Einen geschlossenen Kommunikationskreislauf zwischen den Individuen einer
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