Das demokratische Zeitalter: Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert (German Edition)
Westeuropa und Japan, zeigte sich zutiefst beunruhigt über die Möglichkeit, europäische Länder könnten glatt »unregierbar« werden; die Ölkrise von 1973 hatte die trente glorieuse , jene – verglichen mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – »dreißig glorreichen Jahre« beispiellosen Wachstums und sozialen Friedens, definitiv beendet; das zuvor unbekannte Phänomen der Stagflation – der Kombination von hoher Arbeitslosigkeit und galoppierender Inflation – schien zum Dauerzustand zu werden. Der Philosoph Robert Spaemann sah in der Ölkrise »das wichtigste geistesgeschichtliche Ereignis der Nachkriegszeit«. 1 1976 verkündete der britische Premierminister James Callaghan einer bestürzten Zuhörerschaft auf dem jährlichen Labourparteitag, »daß wir immer davon ausgegangen sind, man könne sich aus einer Rezession herauskaufen und die Beschäftigung steigern, indem man Steuern senkt und die Staatsausgaben erhöht. Ich sage euch in aller Offenheit, daß es diese Option nicht mehr gibt.« Im selben Jahr büßten die schwedischen Sozialdemokraten zum ersten Mal seit vier Jahrzehnten die Macht ein. Die Tage der technokratischen Feinsteuerung der Wirtschaft – des vermeintlichen Schlüssels zum Wohlstand und vor allem zur Stabilität der Nachkriegszeit – schienen der Vergangenheit anzugehören.
Noch auf andere Weise wurde die Stabilität bedroht: Sowohl der einheimische als auch der internationale Terrorismus von rechts und links schienen auf dem Vormarsch. Der Terrorismus säte Zweifel an dem einen vermeintlich fraglosen Attribut des modernen Staates, das auch dann noch hätte Geltung besitzen sollen, als sich die technokratischen Illusionen in Luft aufgelöst hatten: dem Gewaltmonopol. Zwar ließ sich der Terrorismus unter Kontrolle bringen, die große gesellschaftliche Mobilisierung aber, die in den späten 1960 er Jahren begonnen hatte, ging unvermindert weiter – mit all ihren Forderungen nach mehr und anderer Repräsentation und auf jeden Fall nach mehr direkter politischer Beteiligung.
Vor allem aber schien der Westen sein Selbstvertrauen verloren zu haben. In seiner Ansprache an den Abschlußjahrgang der Universität Harvard von 1978 erklärte Alexander Solschenizyn: »Das vielleicht auffälligste Merkmal, das ein außenstehender Beobachter heute im Westen registriert, ist seine wachsende Mutlosigkeit. Die westliche Welt hat ihre Zivilcourage verloren, sowohl insgesamt gesehen als auch in jedem einzelnen Land, jeder einzelnen Regierung und jeder einzelnen Partei«. Er wies darauf hin, daß »eine solche Mutlosigkeit besonders unter den herrschenden Eliten und den führenden Intellektuellen um sich greift und den Eindruck erweckt, die Gesellschaft habe insgesamt den Mut verloren«. 2
Wie fand Westeuropa von den »Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus«, von denen Habermas in den 1970 er Jahren sprach, und vom »Tod des Menschen«, den Michel Foucault schon Ende der 1960 er Jahre verkündet hatte (und der ja unter anderem das Ende der Illusionen des liberalen Individualismus zu bedeuten schien), zum angeblich triumphalistischen Liberalismus eines Francis Fukuyama in den späten 1980 ern, zur offensichtlichen Rehabilitation der Apologeten des Kapitalismus à la Hayek und zur anscheinend endgültigen Diskreditierung des leninistischen Politikmodells? Handelte es sich um eine rasante Liberalisierung des westeuropäischen Denkens, die womöglich dem Vorbild vieler osteuropäischer Dissidenten mit ihrer Hinwendung zu einer bestimmten Form von Liberalismus folgte, wie zahlreiche Beobachter behaupten sollten? Oder erlebte Europa den Sieg einer neoliberalen Verschwörung, die bereits 1945 auf dem Mont Pèlerin begonnen hatte, deren Protagonisten – Hayek und Milton Friedman – die Kommandohöhen des intellektuellen Diskurses aber erst in den 1970 er Jahren eroberten, wie ihre linken Kritiker meinten? Und was bedeutete diese überraschende Renaissance – oder dieser Rückschlag, je nach Sichtweise – für das Demokratieverständnis und insbesondere für die westeuropäische Verfassungsordnung der Nachkriegszeit?
Danksagung
Das vorliegende Buch wurde vor vielen Jahren konzipiert. Für erste Diskussionen über das Projekt stehe ich in der Schuld von John Burrow, der mich dazu ermutigte, in Oxford Vorlesungen über das europäische politische Denken im 20. Jahrhundert zu halten, sowie in der Schuld von Peter Ghosh, der die Vorlesungen kritisch verfolgte und Jahre später
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