Das Diamantenmädchen (German Edition)
Schenkeln oder vom Rücken, bizarr und grob und wie falsch geformt, lagen viel zu tief, als dass dort Zähne hätten sein können. Ein Wunder, dass er sprechen konnte. Lilli wurde schlecht. Nicht vor Ekel diesmal. Vor einem Mitleid, das sie so noch niemals gefühlt hatte. Das war ihr Bruder. Ihr Bruder!
»Wilhelm!«, sagte sie, immer noch von Schluchzen unterbrochen. »Wo … wo warst du? Warum bist du nie … warum … wir dachten doch, du seist tot.«
Es war so grauenvoll, keine Gemütsregung in dem zusammengeflickten Gesicht sehen zu können. Keine Augenbrauen, die sich bewegten. Keine Stirn, die sich in Falten legen ließ. Nur ein Mund, der grinsen konnte wie eine halb zerstörte Puppe.
»Ich bin tot!«, sagte Wilhelm mit dieser schnarrenden Stimme dumpf, mühsam artikulierend. Vielleicht war auch ein Stück seiner Zunge … Lilli zwang sich, nicht daran zu denken. Ihr war entsetzlich schlecht. Sie hatte Angst, sich vor Wilhelm übergeben zu müssen.
»Ich … o Gott, Wilhelm. Ich habe dich so vermisst! Warum hast du nicht wenigstens geschrieben?«
Gerda fiel ihr ein. Hatte sie sie schreien hören? Einen Augenblick lauschte sie nach oben. Aber von dort kam nur ein leises Bollern aus der Küche. Gerda schürte ein. Sie hörte wohl schon lange schwer. Wilhelm zuckte kurz die Achseln.
»Du weißt nicht, wie das ist«, sagte er, immer mit diesem tiefen, erschreckenden Gurgeln in der Stimme, »ich war ein dreiviertel Jahr im Lazarett. Ich habe fünfunddreißig …«, er verschluckte sich und musste tief und rasselnd husten, bevor er fortfuhr, » … fünfunddreißig Operationen hinter mir.«
Er deutete auf sein Gesicht.
»Und das ist dabei herausgekommen. Ich soll froh sein, dass ich nicht künstlich ernährt werden muss«, sagte er bitter. »Und so hätte ich zu Mutter gehen sollen?«
Er lachte. Lilli schrak zusammen. Es war ein furchtbares Geräusch. Wilhelm konnte seinen Mund nicht weit öffnen, aber man sah doch den zahnlosen Kiefer, oder das, was davon übrig war.
»Hast du dich gehört, wie du geschrien hast?«, fragte Wilhelm. »Mutter wäre gestorben, glaube ich. Und ich werde keine Frau haben und keine Kinder. Ich habe nirgends Arbeit bekommen. Wenn dir ein Arm fehlt, ja. Oder ein Bein, dann ja. Dann nehmen sie dich. Aber wenn du kein Gesicht mehr hast …«, er schluckte schwer und angestrengt. Dann sagte er voller Hass:
»Weißt du, was sie mit uns gemacht haben?«
Lilli schüttelte den Kopf.
»Sie haben uns eingesperrt«, sagte Wilhelm kehlig und fast unverständlich, »in Kriegsversehrtenheime in Masuren. Weit weg von daheim. Sanatorien in tiefen Wäldern, damit sie uns nicht sehen müssen. Die Schrecken der Welt. Die Ungeheuer. Vor mir laufen die Kinder schreiend weg. Ich bin von dort geflohen, sobald ich wieder laufen konnte.«
»Aber?«, fragte Lilli. »Wo warst du all die Jahre?«
Wilhelm schüttelte den Kopf.
»Überall«, sagte er unruhig, »ich bin weggegangen aus Deutschland.«
»Wilhelm«, fragte Lilli stockend, »damals, 1919, warst du das? Als Revolution war? Ich habe dich gesehen, damals.«
»Ja«, sagte Wilhelm mit tief kehliger Stimme, »und du bist weggerannt vor Angst. Du warst die einzige, die ich hätte sehen wollen. Die einzige, von der ich dachte … meine Schwester eben.«
Lilli wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Tränen stiegen wieder in ihr hoch. Sie fühlte sich, als sei sie schuld, dass Wilhelm nicht zurückkehren konnte.
»Wilhelm«, sagte sie mit schwankender Stimme, »ich habe dich nicht erkannt. Ich wusste ja nicht … ich war noch so jung.«
Sie saßen sich auf dem Holzboden gegenüber. Bruder und Schwester. In Lillis Kopf wirbelten die Gedanken. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wilhelm sah sie nur an. Seine Augen waren noch ein bisschen wie früher. Nur die Augen. Es war so still, dass man draußen den Regen rauschen hörte. Oben öffnete sich eine Tür und Gerda rief hinunter.
»Fräulein Lilli?«
Wilhelm hob rasch den Finger an den Mund, um ihr zu bedeuten, dass sie nicht sagen sollte, dass er da war. Lilli nickte kurz. Die Zeichen aus der Kindheit hatten sich nicht verändert, noch immer verstanden sie sich.
»Ich komme gleich!«, rief sie nach oben und hoffte, man würde das Zittern in ihrer Stimme nicht hören. Sie sah neben sich. Das Kästchen mit den Diamanten hatte sie fallen lassen. Es war aufgesprungen und jetzt begann sie, die Diamanten aufzulesen und sie zurückzulegen.
»Und jetzt?«, fragte sie leise, damit Gerda sie nicht
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