Das Diamantenmädchen (German Edition)
versperren, denn die Steine lagen ohnehin meistens im Tresor. Lilli stieß die Tür auf. Die Werkstatt war düster und kalt. Durch das Souterrainfenster konnte man in den verregneten Garten sehen. Draußen war es fast heller als hier. Sie beeilte sich, zum Tresor zu gehen, als sie ein streifendes Geräusch im Gang hörte.
»Gerda?«, fragte sie, aber da hörte sie schon das Schließen der Tür zum Garten und wandte sich wieder dem Tresor zu. Sie murmelte die Zahlen vor sich hin, während sie sie ablas und das Rädchen drehte. Das Schnurren des Zahlenrades hatte sie als Kind unglaublich fasziniert; es hatte kaum ein schöneres Geräusch gegeben als dieses leise Klicken am Ende, wenn im Schloss etwas einrastete. Die letzte Zahl war eingegeben, und sie begann die Hebel zu drehen, mit denen die Bolzen aus dem Rahmen gezogen wurden. Dann schwang die Tür auf. Es war die dritte Schublade, hatte Paul ihr gesagt, und da stand richtig ein Kästchen mit den Diamanten. Lilli klappte es auf und sah, dass Paul mit zwei Diamanten wohl fast fertig geworden sein musste: Neben den grauen Rohdiamanten waren wie in einem kleinen Bett von bunten Lichtreflexen auf dem dunklen Samt die beiden größten Steine angeordnet. Sie waren wunderschön. Lilli betrachtete sie ein paar Sekunden, als sie wieder Schritte hörte, sich nach der Tür umdrehte und dann ansatzlos zu schreien begann. Es war ein Schreien, das von ganz unten kam, ein Schrei tiefsten Entsetzens, ein Schreien, das man nicht mehr kontrollieren konnte. In der Tür stand der Mann ohne Gesicht und bewegte das, was wie eine grauenvolle Parodie von Lippen aussah, grinste sie an und griff nach ihren Händen. Lilli drehte sich um und wollte wegrennen, aber der Mann ohne Gesicht hielt sie fest, legte ihr seine furchtbare Hand auf den Mund und erstickte ihr Schreien. Jetzt, dachte sie in einem schrecklichen Blitz von Angst, jetzt muss ich sterben. Dann hörte sie, wie der Mann ohne Gesicht dumpf, mit leblos schnarrender Stimme immer wieder dasselbe sagte, und erst allmählich verstand sie, was es war:
»Lilli!«, sagte der Mann ein ums andere Mal, und es hörte sich an, als spräche da einer mit Wasser in der Lunge; immer war da dieses eigenartige Gurgeln in der Stimme. »Lilli, ich bin’s. Lilli! Lilli!«
Lilli hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Sie war hingefallen, und jetzt drehte sie sich um, stützte die Hände auf den Boden und sah den Mann an, der sich vor sie hingekniet hatte.
»Ich bin’s, Lilli. Ich bin’s. Wilhelm.«
Der Mann hatte etwas aus seinem Hemd gezerrt und hielt es ihr hin. Lilli sah es, brauchte in ihrer Panik aber lange Momente, bis sie erkannte, was es war. Ein smaragdenes Kleeblatt an einer festen Angelschnur. Ihr Kleeblatt. Und dann sah sie seine Augen unter der von Narben wulstigen Stirn ohne Augenbrauen, seine blauen Augen, und ein winziger Schatten des Wiedererkennens streifte sie. Sie atmete noch immer wie im Schock, flach und rasend schnell. Der Mann ohne Gesicht ließ sie los, wich etwas zurück und dann setzte er sich einfach auf den Boden. Vielleicht war es diese Geste, die Lilli etwas von ihrer Angst nahm. Die Anspannung wich ein wenig, und auf einmal stieg mit dem Verstehen ein Weinen in ihr hoch, genauso unaufhaltsam wie der Schrei eben.
»Wilhelm?«, schluchzte sie stoßweise, fragend. »O Gott! Wilhelm?«
Der Mann ohne Gesicht nickte. Und aus der Art, wie er saß, wie er nickte, erkannte Lilli, dass es wirklich Wilhelm war, und aus dem Weinen des Schreckens wurde immer mehr ein unaufhaltsames, nicht enden wollendes Weinen des Mitleids, des Entsetzens darüber, was mit ihrem Bruder geschehen war, der Trauer über die verlorenen Jahre und schließlich Tränen des Wiedersehens.
»Wilhelm!«, wimmerte Lilli. »O mein Gott, Wilhelm! Was sie mit dir gemacht haben!«
»Ja«, sagte Wilhelm mit dieser fremd gurgelnden Stimme nur. »Ja.«
Lilli sah ihn das erste Mal länger an. Noch immer stieg das Schluchzen stoßweise in ihr hoch, aber allmählich gewann sie ihre Beherrschung zurück, auch wenn es in ihr von lauter Gefühlen tobte. Nichts war von dem schönen jungen Mann geblieben, nicht einmal die blonden Haare. An die Stelle der geraden, schmalen Nase, auf die ihre Mutter immer so stolz gewesen war, weil sie von den Hartwigs herstammte, spannte sich fremde Haut wie ein Flicken über eine Mulde, mit zwei Löchern, die an den Rändern wund und rot waren. Wilhelm konnte auch keine Zähne mehr haben, die Lippen aus irgendeinem Fleisch von den
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