Das Dorf der Katzen
Prophezeiung, von der du ja ein Teil bist, klingt wie folgt:“
Vera hörte konzentriert zu, als Ioannis ohne jedes Pathos, aber klar akzentuiert zu sprechen begann:
In einer neuen Zeit
Wo die Sterne sich verdecken
Und ein zweiter Mond erscheint
Eine Erwählte wird kommen von fern
Sie wird reisen in einer Barke
Ohne Segel und Ruder
Und sie wird tragen das Mal Der Einen
Und Gold auf dem Haupt
Erheben werden sich alsbald
Die staubgeborenen Bestien
Sie werden kommen aus der Nacht
Und Neun wird sein ihre Zahl
Halten könnt ihr sie
Mit der Heerschar Der Einen
Und dem feurigen Kreis
Geschlagen um den Hort
Speere aus Glas
Werfen in den Staub sie zurück
Aus dem sie wiederkommen
Stärker denn je
Nehmt ihr Strahlen des Ra
Gefangen im Kristall
Könnt blenden ihr sie
Doch nicht auf ewige Zeit
So ihr sie schließlich bekämpft
Mit Speeren zerfallenden Erzes
Werden sie verderben
Und verstreuen Ihr Leben
Vergeht der letzte Diener
Des falschen Dieners
Werden die göttlichen Schwestern
Wieder vereint
Sanftmut nimmt den Zorn in sich auf
Und das Eiland wird verglühen
Wenn dieser Tag sich neigt
Vera nickte. „Mit deiner Erklärung von vorhin und allem, was ich bisher gehört und gesehen habe, ist bis auf die letzten drei Absätze alles soweit ziemlich klar und zutreffend, beziehungsweise ist schon eingetroffen. Es ist wirklich gespenstisch, das zu hören. Da ist man Teil einer uralten Prophezeiung mit unglaublichen Konsequenzen und weiß Zeit seines Lebens nichts davon!“
Sie schüttelte sich und griff zu ihrem Weinglas, „aber was hat es mit den ‚Strahlen des Ra im Kristall’ und dem ‚zerfallenden Erz’ auf sich?“
Ioannis lachte bitter auf. „Ja, das ist das Kernproblem, die besagten kryptischen Stellen. Bei den ‚Speeren aus Glas’ war wenigstens noch das Material genannt. Aber die beiden anderen Andeutungen - da bin ich überfragt. Ich habe mich wohl zu sehr daran fest gebissen und bin so etwas wie betriebsblind geworden. Ehrlich gesagt, ich hoffe jetzt ein wenig auf dich. Vielleicht bringst du Licht in dieses Dunkel?“
Vera sah ihn über den Rand ihres Glases an. Sie lächelte. „Später vielleicht! Zunächst mach ich es hier erst einmal dunkel, ich bin nämlich hundemüde!“
Dann tauchte sie Daumen und Zeigefinger in ihr Glas und drückte die Kerze aus, die zwischen ihnen auf dem Tisch stand. Jetzt spendete nur noch der Mond fahles Licht.
Das genügte den beiden, um ins Bett zu finden.
ΦΦ ΦΦ
Die nächsten drei Tage in Choriogatos verwendete Vera darauf, sich in der Kunst der Feuerwand weiter zu vervollkommnen.
Wie Ian es ihr geraten hatte, übte sie mit mehreren Wissenden zusammen, um den Parablock und damit die gemeinsame Anwendung dieser Fähigkeit zu erlernen.
Zur Freude von Ian und zum heimlichen Stolz von Ioannis machte sie rasch große Fortschritte.
Sie ging aufmerksam durch das Dorf, um sich dessen Grundriss und Straßenplan einzuprägen. Dabei unterhielt sie sich viel mit anderen Wissenden und erfuhr so einiges über deren Schicksale, und wie diese mit dem Dorf verwoben waren.
Die Bewohner von Choriogatos stammten buchstäblich von allen Kontinenten und aus allen Gesellschaftsschichten. Es gab zwei ehemalige Obdachlose, einen aus Sydney und einen aus Amsterdam, die von Bastets Ruf regelrecht von der Straße geholt worden waren, aber auch einen Topmanager eines englischen Chemiekonzerns. Vera konnte sich sogar daran erinnern, wie dessen plötzliches Verschwinden vor ein paar Jahren für einiges Aufsehen gesorgt hatte.
Alle waren sie familiär ungebunden gewesen, ihr Verschwinden hatte in keinem Fall Familien zerrissen, Männern oder Frauen den Ehepartner, Kindern einen Elternteil genommen.
Manche hatten in Choriogatos einen Lebenspartner gefunden, es gab eine Anzahl von Kindern aus solchen Beziehungen.
Alte und gebrechliche Wissende konnten, wenn sie es wollten, aufs Festland zurückkehren, wo die medizinische Versorgung im Notfall doch besser war. Bastets Einfluss verhinderte zwar das Auftreten kleinerer und größerer Krankheiten, aber gegen das biologischen Altern konnte oder wollte sie nichts unternehmen.
Die Gnade eines zweiten Lebens erhielten nur ihre Abbilder, die Katzen.
Außerdem war bei einem dieser Gespräche ein nagender Zweifel in Vera beseitigt worden: Als sie das erste Mal in Ioannis’ Haus kam, war für sie sofort klar, dass das kein Junggesellenhaushalt war. Dafür war alles
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