Das Dorf der Mörder
Name.« Eine angenehme, wohlartikulierte Stimme. »Ich war der psychologische Gutachter von Charlotte Rubin. Entschuldigen Sie, wenn ich störe. Ich weiß, es ist Wochenende. Aber man sagte mir, Sie seien dennoch im Hause, und ich muss jemanden sprechen, der mit den Ermittlungen in diesem Fall zu tun hat.«
»Ja?«, sagte Gehring vorsichtig. Seine Aufnahmefähigkeit war für den Moment erschöpft. Er erinnerte sich flüchtig an das Gespräch mit Brocks wissenschaftlichem Mitarbeiter, einem integer wirkenden jungen Mann.
»Ich muss mit Ihnen reden. Jeremy Saaler, mit dem Sie gesprochen hatten …«
»Ich entsinne mich.«
»Ich habe keine Verbindung mehr zu ihm. Ich mache mir Sorgen. Große Sorgen.«
Frau Schwab hatte sich mittlerweile erhoben und stand abwartend an der Tür. Gehring machte ihr ein Zeichen, dass sie warten sollte.
»Warum?«
»Ich bin noch einmal meine Unterlagen durchgegangen. Und die Aufzeichnungen unseres Diktaphons. Ich habe den Verdacht, dass Frau Spornitz, die Schwester, Mitwisserin der Taten ihrer Schwester ist. Vielleicht sogar noch mehr.«
»Welcher Taten?« Gehring brach der Schweiß aus. Es war stickig und heiß im Büro, aber mit einem Mal bekam er das Gefühl, alle Welt wüsste bereits, dass der Mord im Tierpark nichts anderes gewesen war als das Finale einer grausamen Serie von Tötungsdelikten. Alle Welt, nur nicht die Polizei. Halt. Bis auf eine Ausnahme: eine vom Erdboden verschluckte Streifenpolizistin.
»Ich merke, Sie haben nicht viel Zeit, dennoch bitte ich Sie, mir einen Moment Gehör zu schenken. Ich muss meine Meinung über Frau Rubin revidieren. Ich bin selbst erstaunt, wie mir ein solch kapitaler Fehler unterlaufen konnte, aber ich halte sie nicht nur für zurechnungsfähig, sondern auch für fähig, mehr als einen Mord begangen zu haben. Ich interpretierte ihr Schuldeingeständnis zunächst als den übermächtigen Wunsch, jemanden zu schützen.«
»Wen?«
Die Stille am anderen Ende der Leitung sollte Gehring Gelegenheit geben, von alleine die Antwort zu finden.
»Ihre Schwester?« Ihm fiel der Name nicht ein.
»Ich könnte mir vorstellen, dass beide gemeinsam in den Mord an Werner Leyendecker verwickelt waren.«
»Herr Professor, ich bin sehr in Eile. Cara Spornitz hatte für diesen Zeitraum ein Alibi, wenn ich mich recht entsinne.«
Er sah, wie Frau Schwab die Stirn runzelte und ihre Aufzeichnungen noch einmal durchging.
»Gerade sind wir dabei zu untersuchen, ob es außer Herrn Leyendecker weitere unaufgeklärte Vermissten- oder Todesfälle im Umfeld der beiden Schwestern gegeben hat. Könnten Sie mir Ihre neue Analyse vielleicht kurz schriftlich zusammenfassen?«
Schweigen. Hatte er den Gutachter jetzt vor den Kopf gestoßen?
»Es ist noch etwas.«
»Was denn?«
»Mein Mitarbeiter ist mit Frau Spornitz in Wendisch Bruch.«
Gehring war, als hätte ihn ein Blitz getroffen und alle Nervenenden in vibrierende Erregung versetzt.
»Bitte? Was zum Teufel macht er da?«
»Ich vermute, dass Frau Spornitz gewisse Erinnerungen einfach ausblendet. Herr Saaler will genau diese Erinnerungen wieder ans Licht holen. Deshalb ist er mit ihr dorthin gefahren.«
»Rufen Sie ihn sofort an!«
»Ich erreiche ihn nicht. Er ist verschwunden und meldet sich auch nicht. Das sieht ihm nicht ähnlich. Ich mache mir wirklich große Sorgen.«
Zu Recht, hätte Gehring am liebsten gesagt. Zu Recht. Warum habt ihr mich nicht informiert? Stattdessen wird herumgedoktort und gemutmaßt und im Nebel gestochert. Psychologen. Das Einzige, was er Brock wirklich abkaufte, war dessen Sorge um seinen jungen Mitarbeiter.
»Ich bin auf dem Weg nach Wendisch Bruch. Ich werde mich dort umsehen.«
»Vielen Dank«, sagte der Professor. »Bitte informieren Sie mich. Ich bin jederzeit für Sie erreichbar.«
Gehring legte auf. Er sammelte Frau Schwabs Zettel ein, ging zu ihr und drückte sie ihr in die Hand.
»Kennen Sie Herrn Rütter?«
»Den Staatsanwalt? Nur dem Namen nach.«
»Gehen Sie damit zu ihm. Nur zu ihm. Jetzt. Lassen Sie sich nicht abweisen. Die Bereitschaft wird Ihnen seine Nummer geben. Berufen Sie sich auf mich. Grüßen Sie ihn von mir, und machen Sie ihm unmissverständlich klar, dass dies – so verrückt alles klingen mag – vielleicht die größte Mordserie ist, die wir jemals in diesem Land hatten. Ich bitte um einen Großeinsatz und um Amtshilfe aus Potsdam. SEK und Scharfschützen. In diesem Dorf sind noch acht Menschen am Leben, dazu eine Polizistin, ein Psychologe
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