Das Dorf der Mörder
und – eine unberechenbare Psychopathin.«
Frau Schwab holte tief Luft. Wenn sie jetzt etwas von Wochenende erzählte …
»Und wenn er mir nicht glaubt?«
Gehring ging zurück zu seinem Schreibtisch und holte seine Dienstwaffe aus der Schublade. Er hörte, wie Frau Schwab einen leisen Laut des Erschreckens ausstieß.
»Herr Gehring! Was machen Sie da? Was ist, wenn er mir nicht glaubt und das alles für hirnrissige Vermutungen hält?«
Gehring steckte die Waffe in sein Holster und griff nach seiner Anzugjacke, die über der Stuhllehne hing.
»Dann bin ich heute Abend wieder zurück.«
Er war schon fast an der Tür, da sagte sie noch etwas. »Das Alibi.«
»Was?«
»Frau Spornitz hatte ihre Teilnahme an dem Kongress abgesagt.«
Gehring erreichte die Stadtgrenze. Der Ausflugsverkehr führte schon zu ersten Staus. Er entschloss sich, das Blaulicht einzusetzen. Periculum in mora. Gegenwärtige, erhebliche Gefahr für Leib und Leben.
38
G abriel Brock stand auf, umrundete den Schreibtisch und verließ sein Büro. Er hielt es nicht mehr aus, untätig herumzusitzen. Nach dem Telefonat mit diesem Kriminalkommissar hatte er noch einmal zum Hörer gegriffen und Saaler angerufen. Jason Saaler. Er musste wissen, in welche Lage er, Brock, dessen einzigen Sohn gebracht hatte.
Er verabredete sich mit Saaler an der Charité, wo dieser gerade eine Arbeitsgruppe leitete – er nutzte die Wochenenden gerne, um sich mit möglichst wenig Aufwand genau den Vorsprung anzueignen, mit dem er am Montag seine Mitarbeiter verblüffen würde.
Brock schluckte, als er die aufrechte, fast feldherrenhaft stolze Gestalt Saalers aus dem Aufzug in den Wartebereich kommen sah. Er stand auf und eilte auf ihn zu, reichte ihm die Hand.
»Was gibt es denn so Dringendes, Gabriel?«
Brock sah sich um. »Ich würde das ungern hier besprechen.«
»Wir können zum Italiener gehen, ich habe noch nicht gegessen.«
Brock kannte das Restaurant in der Linienstraße. Es wurde unter der Woche hauptsächlich von Doktoranden und Ärzten aufgesucht, Studenten konnten es sich nur in Ausnahmefällen leisten.
»In Ordnung.«
Die wenigen Minuten entlang der schmalen, dichtbefahrenen Straße, die den gewaltigen Klinikkomplex durchschnitt, verbrachten sie mit Gesprächen über das Wetter und dem Ausweichen entgegenkommender Passanten. Dann hatten sie das Lokal erreicht und wählten einen Tisch am Fenster – dies war nur deshalb möglich, weil der große Mittagsansturm der Touristen bereits vorbei war und der der Besucher des Deutschen Theaters noch nicht begonnen hatte.
»Also. Raus mit der Sprache.«
Saaler schenkte Brock und sich Mineralwasser ein, das eine junge Frau lächelnd und unaufgefordert in einer Karaffe an ihren Tisch gebracht hatte. Alkohol war an Forschungstagen tabu. Zumindest bis Sonnenuntergang.
»Es geht um Jeremy.«
»Dachte ich es mir doch.« Saaler stellte die Karaffe sorgfältig ab. »Es tut mir leid. Er ist mein Sohn. Ich weiß, was ich dir damit aufgebürdet habe.«
Brock unterbrach Saaler mit einer ungeduldigen, fast unwirschen Handbewegung.
»Das ist nicht das Thema. Er ist gut. Er ist sogar großartig, wenn er es eines Tages schafft, aus deinem Schatten herauszutreten. Und das wird er, wenn …«
Brock fehlten die Worte. Wie sollte er seinen Fehler beichten? Er nahm eine Gabel und begann, Linien auf dem Tischtuch zu zeichnen. Bis ihm die Szene aus Hitchcocks Spellbound einfiel und er sie zur Seite legte.
Saaler beobachtete ihn aufmerksam.
»Er ist mit dieser Frau aufs Land gefahren. Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm.«
»Bitte? Was soll das heißen?«
Die Sorge Saalers, dass sein Sohn sich im Job vielleicht nicht bewähren würde, wich dem Ärger über das Unkontrollierbare.
»Es gefällt mir auch nicht«, fuhr Brock fort. »Sie ist keinesfalls nur die etwas exzentrische junge Frau, für die er sie hält. Ich glaube, sie ist darüber hinaus auch eine hervorragende Schauspielerin.«
»Natürlich. Du weißt, was ich von ihr denke.«
»Jason«, Brock schob den Korb mit frisch gebackenen Ciabatta hinüber zu Saaler, »unser wichtigstes Sinnesorgan ist das Gedächtnis.«
»Sicher«, antwortete dieser und nahm sich ein Stück Brot, aß es aber nicht, sondern brach es lediglich in der Mitte durch.
»Unser Gehirn fälscht unsere Erinnerung, jederzeit, unablässig. Es gaukelt uns Dinge vor, weil wir sie erwarten. Die Hütchenspieler. Sie sind wahre Magier der Straße. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf weit ausholende
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