Das Dorf der Mörder
sondern Herr Kannegießer vom Einwohnermeldeamt, der kriegt ihn …«
Sie verhedderte sich, errötete noch mehr und beugte sich über ihre Notizen. »Die Webers und Vennloh. Gisela und Walter Weber wollten an die Costa Blanca. Gerd Vennloh hat sich an der Verlosung einer Green Card für die USA beteiligt und auch eine gewonnen. Oklahoma. Er ist aber nie dort angekommen.«
Sie schwieg. Kunstpausen mochte Gehring gar nicht. Wenn jemand etwas zu sagen hatte, sollte er das tun. Bei fünf spurlos verschwundenen Menschen, alle aus einem einzigen Dorf, sollte man so schnell wie möglich zur Sache kommen.
»Was heißt das?«, fragte er und machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Vennloh hat Deutschland niemals verlassen. Mehr konnte ich nicht herausfinden, da müssten die Kollegen von Interpol tätig werden. Er hat sich zwar auf dem Einwohnermeldeamt abgemeldet, sich aber niemals löschen lassen.«
»Das kann man in Oklahoma durchaus mal vergessen, oder?«
»Er ist aber nie in die USA eingereist. Sein Name taucht in den Akten der Einwanderungsbehörde nicht auf. Er hat sich am 22. März 1995 in Luckenwalde abgemeldet und ist seitdem wie vom Erdboden verschluckt.«
»Weiter?« Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte durch.
»Okay. Ganz unten. Gisela und Walter Weber. Sie wollten an die Costa Blanca. Sie sind nie dort angekommen. Es hat sie auch keiner vermisst. Allerdings …« Sie sah hinunter auf ihren Notizblock, schüttelte den Kopf über ihre eigene Schusseligkeit und schlug hektisch mehrere Seiten zurück. »… sind ein Mann und eine Frau im ungefähren Alter der Webers ein paar Wochen später als unbekannte Tote aufgefunden worden.«
»Wo?«
»Einmal in einem leeren Güterwaggon, der in der Nähe von Hanau abgestellt worden war. Der Mann konnte nicht mehr identifiziert werden. Auch die Frau nicht, die man Wochen später in einem Waldgrundstück Nähe des Autobahnzubrin gers Konstanz gefunden hat. Da es keine Vermisstenmeldungen gab und man sie auch nicht miteinander in Verbindung brachte, konnten die Fälle bis heute nicht aufgeklärt werden.«
»Aber das muss in so einem Dorf doch aufgefallen sein?«
»Nicht, wenn man den Hausstand aufgelöst und sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hat. Wir sollten versuchen, anhand von noch vorhandenen DNA -Spuren in ihrem Haus einen Abgleich zu machen. Ich vermute, das wären dann die ersten beiden nachweisbaren Morde.«
Gehring merkte, wie sich seine Schultern verspannten.
»Bleiben Sachs und Schmidt.«
»Ich habe beim BKA nachgefragt. Nachdem sie sich abgemeldet haben, sind keine unbekannten Toten ihres Alters im Register aufgetaucht.«
»Das lässt doch hoffen.«
»Ja«, antwortete sie. Es klang nach dem genauen Gegenteil.
» Worst case: Beide sind tot, ihre Leichen noch nicht gefunden.« Er sah das dritte Blatt in Schwabs Hand, und ihm schwante Unheil. »Das kann doch nicht sein!«
Entnervt warf er die Blätter auf den Schreibtisch. »Ein halbes Dutzend Leute verschwinden spurlos? Und das soll keinem aufgefallen sein? Ich dachte, in Dörfern wäre die Welt noch in Ordnung. Jeder kennt jeden. Wie können aus einem Hundert-Seelen-Kaff so viele Leute verschwinden, ohne dass sich ein Mensch darum kümmert? Keine einzige Vermisstenanzeige. Keine Nachfragen von Behörden. Wie zum Teufel kann das passieren?«
Schwab zuckte mit den Schultern. »Es ist im Lauf von mehreren Jahren geschehen. Die meisten waren alleinstehend. Männer mittleren bis gehobenen Alters, geschieden, getrennt lebend.«
Sie spielte mit ihrem Ehering, unbewusst.
»Was sagt denn Ihr Mann?«
»Wie meinen Sie?«
»Dass Sie am Wochenende noch arbeiten.«
Sie sah auf ihren Ring, dann hoch zu ihm. Einen Moment lang herrschte Stille. »Ich bin geschieden. Schon lange. Ich bekomme den Ring nicht mehr ab. Es wäre überfällig, wir sind schon seit acht Jahren getrennt. Und trotzdem …«
Sie errötete wieder. Gehring wollte nicht, dass sie sich genierte.
»Das tut mir leid. Wirklich. Ich dachte …«
Sie zupfte an einem ihrer übereinander getragenen, weiten Röcke herum, dann räusperte sie sich. »Wendisch Bruch ist kein Dorf im herkömmlichen Sinne.«
Gehring, dankbar für den schnellen Themenwechsel, sah auf die Berlin-Karte an der Wand, die natürlich nicht bis in den Fläming reichte.
»Wo liegt es eigentlich?«
»Darf ich?«
Frau Schwab erhob sich ächzend und schwankte, schwer wie ein Matrose bei Wellengang, um den Tisch. Mehr aus Reflex als aus Höflichkeit stand Gehring auf
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