Das Dorf der Mörder
befände sich auf einem Ausgrabungsfeld. Eine ganze Schicht hatte er freigelegt und Erstaunliches gefunden: Charlies Geständnis. Und Caras Rolle als Mitwisserin, wenn nicht sogar Mittäterin. Doch unter dieser Schicht lag noch eine weitere. Das war ihm klargeworden, als er seine Zusammenfassung vorgelesen hatte. Unruhe erfasste ihn.
»Die Schwestern …« Er verstummte, als er Saalers Gesicht sah.
Der war wie versteinert. Die funkelnden Augen waren dunkler geworden, schmaler.
»Brock. Beantworte mir nur eine Frage: Wo ist mein Sohn?«
39
S anela wusste nicht, ob sie nur geschlafen hatte oder ihr Körper sie schon phasenweise in eine Art Koma fallen ließ, um die letzten Reserven zu schonen. Sie hatte keinen Hunger, aber der Durst wurde beinahe übermächtig. Der Gedanke an einen Tropfen Wasser trieb sie beinahe in den Wahnsinn.
Sie hatte die niedrige, stockdunkle Sickergrube Zentimeter für Zentimeter abgesucht. Ihre Fingerkuppen, die Knie und der Rücken waren aufgeschürft, ihr Körper völlig verspannt von der unnatürlichen geduckten Haltung, in der sie sich nur kriechend vorwärtsbewegen konnte.
Sie war blind wie ein Maulwurf. Jeder Blick auf die immer schwächer werdenden Leuchtziffern ihrer Uhr wurde zur Kostbarkeit. Wenn sie erloschen waren, würde sie völlig die Orientierung verlieren. In diesem Gefängnis blieben ihr nichts als ihr Tastsinn und ihr hoffentlich noch lange funktionierendes Gehirn. Sie überwand sich und untersuchte die Überreste von Knochen, auf die sie gestoßen war und die sie zunächst für Zweige gehalten hatte. Ein Brustkorb. Winzig. Als sie mit den Händen in dem matschigen Schlamm wühlte, entdeckte sie weitere kleine Knochen. Sie beschloss, die Sache systematisch anzugehen. Alle Fundstücke schleppte sie kriechend und keuchend in das, was sie die rechte Ecke nannte. Sie vermutete, dass es sich bei den Skelettteilen um die eines Kleinkindes oder Neugeborenen handelte. Während sie ihre Suche fortsetzte, stießen ihre Fingerspitzen plötzlich an etwas Hartes, Glattes. Es war klein, und als sie es vom Dreck einigermaßen befreit hatte und ertastete, was sie gefunden hatte, fuhr die Freude wie eine Stichflamme in ihr Herz. Ein Feuerzeug!
Die Enttäuschung folgte auf dem Fuß. Das Zündrad war eingerostet und ließ sich nicht mehr bewegen. Sie versuchte es wieder und wieder. Schließlich steckte sie es in ihren Büstenhalter, um es nicht zu verlieren. Auch ohne Funktion hatte es etwas Tröstliches. Das Nächste, was sie fand, war ein vermoderter Fetzen Stoff. Wahrscheinlich hatte man in dieser Grube auch Abfall entsorgt, so bestialisch, wie es stank. Sie suchte weiter und stieß auf einen glatten, festen Gegenstand. Ein Stock? Ein Besenstiel? Es kostete sie viel Anstrengung, bis sie ihn aus dem Schlamm gelöst und einigermaßen von seinen Anhaftungen befreit hatte.
Ihr Rücken schmerzte, als ob er auseinanderbrechen würde. Sie streckte die Beine nach hinten, ließ sich mit dem Bauch in den Schlamm fallen und drehte sich um. Etwas fiel auf ihre Stirn. Ein Wassertropfen. Sie wollte sich aufrichten und dachte im letzten Moment daran, dass sie mit dem Kopf an die Decke donnern würde. Vorsichtig streckte sie die Hand aus, bis sie die Holzbohlen fühlte. Tatsächlich. Die Feuchtigkeit sammelte sich irgendwo, ein zweiter Tropfen rann über ihren Zeigefinger. Begierig führte sie ihn an ihre Lippen und verrieb ihn dort. Ob das, was da hereinsickerte, trinkbar war, darüber wollte sie sich in ihrer Situation nicht den Kopf zerbrechen. Sie arrangierte ihre Lage so, dass die Tropfen ihren geöffneten Mund treffen würden, und blieb liegen.
Es dauerte ewig, bis sich der nächste löste. Sie hatte Zeit nachzudenken. Der Stock lag neben ihr, sie nahm ihn und glitt mit der Hand über die gesamte Länge. An seinem Ende verharrte sie. Ganz deutlich konnte sie die Verdickung spüren, von der etwas wie ein gewachsener Griff abzugehen schien. Sie hatte ein solches Gebilde schon einmal gesehen, in der kriminalhistorischen Sammlung der Charité. Es war der Oberschenkelknochen eines Erwachsenen und der Griff nichts anderes als das Verbindungsteil zur Hüfte.
Der Tropfen landete auf ihrem Mund. Reglos blieb sie liegen. Sie spürte, wie ihre Atmung sich veränderte und das Blut in ihren Adern zu kochen begann. Eine Panikwelle breitete sich aus und drohte sie zu überwältigen.
Ruhig, dachte sie. Ruhig. Du kommst hier raus. Du bist immer rausgekommen, sogar, als schon einmal alles zu Ende zu sein
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