Das Dorf der Mörder
und machte ihr Platz. Innerhalb kürzester Zeit präsentierte sie ihm auf dem Monitor seines Computers die Landkarte des südlichen Brandenburgs, Bezirk Teltow-Fläming.
»Das ist ja am …«, setzte er an.
»Genau.« Frau Schwab kehrte mit Mühe wieder zu ihrem eigenen Stuhl zurück. »Nur eine knappe Stunde von Berlin, auf halbem Weg nach Dessau.«
»Dessau.«
Auch darüber stand etwas in der Akte. Er würde später nachschlagen.
»Was also ist das Besondere an diesem Ort?«
»Zu DDR -Zeiten war das ganze Land in LPG -Hand. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Freie Bauern gab es nicht mehr, ihr Land war weg, ihr Besitzanspruch stand nur noch auf dem Papier. Wendisch Bruch gehörte zur LPG ›Banner der Völkerfreundschaft‹. 1969 gegründet, dann mit der LPG Buschwiesen und noch einer und noch einer zusammengeschlossen. Die LPG Banner der Völkerfreundschaft war eine der größten der DDR . Und wo viele Indianer sind, muss es auch eine Menge Häuptlinge geben. Die Vorsitzenden. Fast alle von denen wohnten in Wendisch Bruch.«
»Sagt Ihr Streuselkuchen?«
»Sagt Herr Kannegießer. Er kommt aus dem Fläming und ist dort aufgewachsen. Wir haben wirklich lange miteinander geredet.«
»Das glaube ich gerne. Was erzählt er denn noch so über das Dorf der LPG -Vorsitzenden?«
»Dass es eben keine gewachsene Gemeinschaft mehr war, sondern eher eine zusammengewürfelte, die nach der Wende auseinanderbrach. Die Rückübertragungen taten ihr Übriges, viele wollten woanders nochmal von vorne anfangen. Geblieben sind eigentlich nur die, die keine Alternative hatten. Unter uns: ein Dorf von Losern. Es erinnert mich an verfallende Plattenbau-Siedlungen. Häuser, in denen nur noch die kleben bleiben, die den Absprung nicht schaffen. Da ist Schluss mit Zusammenhalt. Da achtet keiner auf den anderen, er ver achtet ihn höchstens, weil er genauso wenig auf die Reihe bekommt wie man selbst.«
»Vermutungen«, grollte Gehring. Wer weiß, was dieser Streuselkuchen in Luckenwalde Frau Schwab sonst noch ins Ohr gekrümelt hatte.
»Aber eine Vermisstenmeldung haben wir doch.« Mit einem triumphierenden Lächeln beugte sie sich vor und tippte auf ein Sternchen neben dem Namen Sachs.
»Klaus Sachs«, fuhr sie fort. »Sein Vater lebte in Chemnitz, aber der Kontakt war wohl nicht so eng, sodass ihm das Verschwinden seines Sohnes erst Monate später aufgefallen ist. Der Vater selbst ist schon vor einiger Zeit verstorben. Die Beamten in Jüterbog haben das damals aufgenommen und bearbeitet. Sachs hatte Schulden, sein Haus ist unter den Hypotheken fast zusammengebrochen. Erst nach mehreren Beschwerden des Vaters wurde eine Fahndung ausgelöst, allerdings ohne Dringlichkeit. Man vermutete einfach, er habe sich wegen der Schulden abgesetzt.«
Gehring setzte an, um etwas in der Art wie »Jüterbog – Polizist – Kopf kürzer machen« zu notieren, ließ es dann aber bleiben. Frau Schwab schien da auf ihre ganz eigene Art weitaus mehr zu erreichen. Vielleicht konnte er sie am Montag nochmal auf die Dienststelle ansetzen, wenn es um die Todesumstände des Bäckers und des Metzgers ging. Er seufzte.
»Was haben Sie da noch?«
Fast zögernd reichte sie ihm den letzten Zettel. Karl Schenk, Schreiner. Jörg Berger, Bäcker. Georg Kordes, Elektriker. Er wappnete sich, weitere schlechte Nachrichten zu erfahren.
»Diese drei sind definitiv tot. Alles Unfälle, alle in den Jahren dreiundneunzig bis sechsundneunzig. Über die Todesursachen müsste ich aber nochmal mit dem Kollegen in Jüterbog sprechen. Er will sich dahinterklemmen.«
»Danke.« Gehring nickte knapp. »Gute Arbeit. Bleiben Sie dran, vielleicht taucht ja einer der Vermissten noch in alten Registern auf.«
Schwab erhob sich ächzend. »Was glauben Sie? Hat Charlotte Rubin ein halbes Dorf auf dem Gewissen?«
Gehring starrte auf die drei Blätter. Über fünfzig Leute, die weggezogen sind. Fünf Vermisste – rechnete man die im Ausland verschwundenen Personen mit, mindestens drei Tote. Alles innerhalb von wenigen Jahren. Rubin hätte ihr mörderisches Handwerk in zartem Alter beginnen müssen. Zwei weitere Tote – Leyendecker und sein Kollege. Zählte er noch den verschwundenen Erich Wahl dazu, dann waren das insgesamt elf ungeklärte Schicksale. Zu viel für so ein kleines Dorf. Was er befürchtet hatte, war eingetreten. Das war kein Fall mehr für die Berliner Mordkommission. Das musste umgehend ans BKA .
Sein Telefon klingelte.
»Ja?«
»Brock ist mein
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