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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Verbrechens, verübt vor den Augen einer schweigenden Dorfbevölkerung und eines versagenden Beamtenapparates.
    Ein Streifenwagen hatte sich unmittelbar nach Tomislav Bearas Besuch von Jüterbog aus nach Wendisch Bruch auf den Weg gemacht. Ihr Vater hatte Typ und Kennzeichen des Autos seiner Tochter bei den Kollegen hinterlassen, noch gab es keine Rückmeldung. Vielleicht hatte sie dem Dorf schon längst den Rücken gekehrt? Aber das war nicht ihre Art. Sie war ein Terrier. Klein, blitzschnell, ewig unterschätzt. Die verbissen sich am meisten.
    Sie war noch da. Davon war Gehring überzeugt. Sonst hätte sie ihn schon längst mit weiteren Anrufen und Theorien bombardiert. Dass sie es nicht tat, passte nicht zu ihr. Er dankte seiner Eingebung, dass er Gerlinde Schwab hinzugezogen hatte.
    Sie hatte gute – nein, hervorragende Arbeit geleistet. Die Liste der Einwohner von Wendisch Bruch, die weggezogen oder verstorben waren, war lang.
    »Ich soll ihm einen Streuselkuchen vorbeibringen, wenn ich mal in der Stadt bin«, hatte sie die gewaltige Ausbeute erklärt. Da war Gehring noch stolz auf sich, Schwabs verschüttete Talente wenigstens zum Teil freigelegt zu haben. Was folgte, hatte ihn in genau die Situation gestürzt, in der er sich nun befand: wachsende Unruhe und äußerste Sorge.
    »Da wären erst mal die, die im Lauf der Jahre weggezogen sind.« Schwab reichte ihm ein Blatt Papier über den Schreibtisch, auf dem über zwanzig Positionen mit den Namen von Einzelpersonen oder ganzen Familien verzeichnet waren. Er überschlug die Zahl und kam auf über fünfzig Leute. Ein Exodus. Der schleichende Tod eines brandenburgischen Dorfes, und das innerhalb weniger Jahre.
    »Begründung: kein Job. Ich habe noch nicht jeden Einzelnen nachprüfen können, aber bei den meisten stimmt es wohl. Viele sind nach Berlin gegangen. Einige auch nach Westdeutschland, in die Schweiz und nach Österreich. Dort werden vor allem Stellen im Gast- und Hotelgewerbe besetzt, also keine Fachkräfte. Man kann ziemlich schnell und unauffällig von vorne anfangen. Manche habe ich erreicht. Sie erklärten übereinstimmend, dass es wirtschaftliche Gründe waren, warum sie Wendisch Bruch verlassen haben. Aber zwei von ihnen sagten noch etwas. In verschiedenen Worten, aber dem gleichen Sinn: Die Chemie hätte sich verändert.«
    »Die Chemie?« Gehring sah kurz von dem Blatt hoch. Weder Erich Wahl noch Harald Schmidt standen darauf.
    »Eine Art unheilvolle Atmosphäre. Der eine sagte, es wäre so gewesen, als ob ein Foto seine Farben verloren hätte. Wie alte Aufnahmen aus den siebziger Jahren, die alle nur noch verwaschene Rot- und Grüntöne haben. Je mehr Leute wegzogen, desto düsterer wurde es.«
    »Das ist mir klar.« Er legte das Blatt auf seinem Schreibtisch ab. »Aufgegebene Häuser im Stadtbild sind wie ein Geschwür, das sich nicht mehr schließt. Keiner will mehr hinziehen, die Häuser verlieren ihren Wert, eins steckt das andere an, schließlich stehen sie leer und verfallen. Ein Teufelskreis.«
    »Der aber in diesem Fall vielleicht noch eine andere Ursache hat, wie Sie bereits vermutet haben. Oder?« Sie schob ihm das nächste Blatt zu. Fünf Namen. Vennloh, Schmidt, Weber, Weber, Sachs.
    »Diese Personen sind unbekannt verzogen, es gibt keinen Hinweis auf ihren Aufenthalt. Sie haben sich nirgendwo neu angemeldet, sondern sind einfach von der Bildfläche ver schwunden. Weg. Einfach weg.«
    Stirnrunzelnd warf Gehring einen Blick auf die Namen. Fünf Menschen mit ungewissem Schicksal. Der Tag fing gut an. Und er sollte in diesem Stil weitergehen.
    »Da unten, sehen Sie? Dort, wo ich die beiden Kreuze gemacht habe. Weber und Vennloh. Herr Kannegießer meinte, bei diesen zweien gab es einen Vermerk, dass sie ins Ausland gegangen wären oder die Absicht gehabt hätten.«
    »Warum sind sie dann nicht auf Liste eins?« Er griff nach dem ersten Blatt, das er bereits zur Seite gelegt hatte. Ein langer, schwerer Blick aus Schwabs kleinen Augen veranlasste ihn, es wieder sinken zu lassen.
    »Okay. Was meinte Ihr Herr …«
    »Kannegießer?«
    »Wer ist das eigentlich?« Ihm war kein Kollege dieses Namens bekannt. Hoffentlich hatte Schwab den Mund gehalten und nicht irgendeinen Polizeidienstanwärter auf die Sache angesetzt.
    »Luckenwalde. Meldestelle. Der Streuselkuchen.« Frau Schwab errötete erneut, und Gehring ahnte, dass der Anstieg ihres Blutdrucks vielleicht Folge eines netten Telefonflirts war. »Also, nicht der Streuselkuchen natürlich,

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