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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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zurückkam, lag das Baby auf dem Boden. Es lag nur ein einziges Mal in den Armen seiner Mutter. Ein einziges Mal hob sie es hoch. Um es zu küssen? Nein. Sie steckte es kopfüber in den Eimer.«
    Cara krümmte sich zusammen und legte die Hände vors Gesicht. Marten schlug sie mit einer unwilligen Bewegung weg.
    »Sie hat sie ersäuft wie junge Katzen. Und dann hat sie Charlie den Eimer in die Hände gedrückt und weggeschickt. Charlie lief nachts mit ihrer kleinen toten Schwester durch Wendisch Bruch, und nur die Hunde haben es bemerkt. Nur die Hunde.«
    Er riss ihren Kopf hoch und hielt ihr wieder die Spritze an den Hals. Jeremy tastete nach der Holzbohle. Sie war zu groß, zu schwer, um sie als Waffe einzusetzen. Und trotzdem. Die Hoffnung war nichts anderes als ein einziges großes Trotzdem.
    »Lass das«, sagte Marten müde. »Sie ist tot, noch bevor du das Ding aufgehoben hast.«
    Jeremy ließ die Hände sinken.
    »Und wo warst du?«, schluchzte Cara. »Marten, großer Bruder, Rächer der Unschuldigen, wo warst du?«
    Er stach ihr die Spritze in den Hals. Sie schrie und starrte Jeremy mit weit aufgerissenen Augen an.
    »Und wo warst du, Cara?«
    »Sie war ein Kind!«, rief Jeremy. »Was wird das hier? Ein Tribunal über die einzig Unschuldige in diesem ganzen gottverlassenen Dorf?«
    »Sie hätte etwas tun können! Sie! Gerade sie! Aber sie hat weggeschaut wie alle anderen.«
    »Weil sie nicht anders konnte, Marten. Ich bin Psychologe. Ich kann Ihnen das erklären.«
    Marten zog die Nadel aus Caras Hals, und Jeremy verbuchte dies als winzigen Erfolg.
    »Dann erkläre mir, wie das passieren kann. Alle haben es gewusst. Keiner macht das Maul auf.«
    »Einer wartet auf den anderen«, erwiderte Jeremy. »Im Guten wie im Bösen. Einer muss anfangen. Seien Sie das, Marten.«
    »Nein.«
    Es war kein Staub in Martens Augen. Es waren Tränen. Cara tastete vorsichtig nach ihren Wunden.
    »Du kannst doch nicht immer weiter töten«, flüsterte sie. »Hör auf. Ich flehe dich an.«
    Marten wischte sich mit der Hand über die Lider. Er ärgerte sich über seine Schwäche. Seine Stimme klang wieder hochmütig und kalt.
    »Du verstehst es immer noch nicht. Was muss eigentlich passieren, bis du endlich kapierst, was mit Charlie geschehen ist? Deine Mutter hat ihre eigenen Kinder direkt nach der Geburt getötet, und anschließend drückte sie ihrer eigenen Tochter den Eimer mit dem kleinen Leichnam in die Hand. Wie findest du das?«
    »Ich … ich weiß nicht.«
    »Charlie musste nicht nur mit ansehen, wie ihre Geschwister umgebracht wurden. Sie wurde auch ihr Totengräber. Wohin geht man nachts in einem Dorf mit einem Eimer, in dem eine Babyleiche steckt? Was sollte sie tun? Wo den kleinen Körper begraben? Oder ihn gleich in die Wende werfen? Sie kam zu mir. Ich habe ihr die Last abgenommen. Und ich habe es noch zwei weitere Male getan.«
    Und endlich verstand Jeremy. Die Logik im Wahn. Das Töten der letzten Unschuld. Cara, das Sonnenkind, Charlie, die Schattenfrau. Und Marten, der die Schatten nicht mehr vertreiben konnte und deshalb alles mit sich ziehen wollte in die Dunkelheit.
    »Das war die Nacht, in der Charlie aufhörte, Charlie zu sein. Sie war nicht mehr das Mädchen, das ich kannte. Mit dem ich ein Herz in die Bank geritzt habe. Charlie und Marten, für immer. Das mir seinen Talisman geschenkt hat, der mich beschützen sollte.«
    Marten griff unbewusst an seine Silberkette, ließ dann die Hand sinken. Jeremy wusste, dass Sie keinen Anhänger mehr hatte.
    »Die Heilige Katharina?«, fragte er. Sie haben den Talisman zurückgebracht, als Charlie ihn am meisten brauchte. Sie waren der Seelsorger. Wie haben Sie sich da einschmuggeln können?«
    »Die Menschen sehen, was sie erwarten. Einen Priester, einen Clown, einen Loser. Nur Charlie sah etwas anderes in mir. Doch das war nach dieser Nacht vorbei. Sie hat sich vor allem geekelt, auch vor mir. Und sie wollte nicht mehr leben. Das war das erste Mal, dass sie sich aufhängen wollte. Das weißt du aber noch, oder?«
    Cara nickte zögernd. Jeremy wagte nicht, sich zu rühren. Das Ausmaß der Tragödie, die sich in diesem kleinen Dorf abgespielt hatte, lähmte ihn.
    »Dann wurde es besser. Im Sommer darauf dachte ich, es wäre alles nur ein Alptraum gewesen. Aber die Männer kamen weiter zum Hof. Und deine Mutter wurde wieder schwanger. Und so kam es, dass Charlie wieder nachts mit einem Eimer durch das Dorf ging. Sie lief vorbei an all den adretten Häusern von Wendisch

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