Das Dorf der Mörder
ging mein Vater Zigaretten holen. Weiter als bis zu diesem Stall ist er nicht gekommen.«
Jeremy erkannte mit Schaudern einen schwarzen Schädel neben dem Gerüst eines Brustkorbes, halb versunken und verkrustet von Dreck und Sedimenten.
»Als er hier vor der Grube lag und die drei Babyleichen sah, hat er sehr schnell verstanden. Ich habe ihn da unten liegen lassen.«
»Sie haben ihn …« Jeremy fehlten die Worte.
»Ja. Er hat vier Tage überlebt.«
»Er war Ihr Vater.«
»Er war Charlies Mörder. Er und die anderen.«
»Ich verstehe«, flüsterte Cara. »Ich verstehe jetzt, Marten. Lass uns gehen.«
»Der Schreiner hatte einen Badeunfall. Ausgerechnet in der Wende. Und dann musste einer nachts aufs Dach klettern, die Antenne richten, und rutschte ab. Die Unfälle häuften sich. Und ein Gerücht ging um. Dass alle, die auf dem Hof gewesen waren, eines unnatürlichen Todes starben. Da packten sie ihre Siebensachen und wollten nur noch weg. Zwei habe ich auf dem Weg ins Ausland erwischt. Einer wollte nach Amerika. Jetzt liegt er da unten. Und Charlie stieg immer wieder auf den Dörrboden und wollte sich aufhängen. Da wusste ich, es würde nur aufhören, wenn sie Wendisch Bruch verlassen würde. Aber sie wollte nicht. Wegen dir, Cara. Wegen dir ist sie in dieser Hölle geblieben. Wegen dir konnte sie nicht vergessen. Sie fühlte sich schuldig. Sie war die stumme Gehilfin einer Kindsmörderin, und sie war vergewaltigt worden. Die Männer von Wendisch Bruch hatten sich erst an deiner Mutter vergangen und wollten jetzt auf Charlie umsteigen. Deshalb mussten sie weg.«
»Und der Mann im Tierpark? Was war mit dem?«
Marten sah zu Boden. Wieder wischte er sich unwillig über die Augen. »Charlie und ich hatten uns lange nicht gesehen. Aber wir lebten ja in derselben Stadt. Wir waren zusammen, ohne zusammen zu sein. Und es war gut so. Aber im Mai rief sie mich an. Sie sagte, sie hätte einen wiedergesehen. Den Letzten von denen aus Wendisch Bruch. Im Tierpark. Was sie tun sollte. Ob sie ihn ansprechen sollte. Zur Polizei gehen.«
»Sie war auf dem richtigen Weg«, sagte Jeremy. »Sie hatte mit alldem abgeschlossen. Sie hatte wieder ein Leben. Sie haben es zerstört!«
»Das hatte sie nicht! Ich sagte ihr: Beobachte ihn, lass ihn nicht aus den Augen. Ich bin in einer Stunde da. Ich habe ihn gefesselt und geknebelt und dann gewartet, bis es Nacht wurde. So lange war ich bei ihr. Wir haben nicht viel geredet. Wir haben uns noch nicht einmal berührt. Ich wollte nur wissen, was man braucht, damit jemand bei vollem Bewusstsein bleibt, sich aber nicht wehren kann. Charlie sagte es mir. Und sie gab mir die Medikamente. Sie wusste nicht, was ich vorhatte. Vielleicht glaubte sie an einen Denkzettel, sie hat nicht näher gefragt.«
Cara rutschte in seinen Armen Richtung Boden, und er ließ sie fallen. Als sie auf Jeremy zukriechen wollte, hielt Marten sie an ihrem linken Knöchel fest. Er brauchte nicht viel Kraft dazu.
Er zog sie zu sich heran wie eine Puppe. Sie weinte, und für einen unglaublichen Moment legte Marten die Arme um sie und hielt sie an sich gedrückt.
»Ich hätte mich gestellt, wenn es ihr geholfen hätte. Aber sie war schneller. Sie hat meine Schuld gebüßt. Sie war ein Engel. Ein beschmutzter, entwürdigter, in den Staub getretener Engel.«
»Nein«, schluchzte Cara. »Nein! Du hast alles noch schlimmer gemacht! Wegen dir ging alles wieder los! Wegen dir hat sie sich umgebracht!«
»Du bist immer noch blind und taub, Cinderella. Kannst du immer noch nicht ertragen, wenn dein weißes Kleidchen schmutzig wird? Du wirst es jetzt endlich lernen zu verstehen.«
Jeremy suchte verzweifelt den Raum nach etwas ab, das er als Waffe benutzen konnte. Die Zeit der Geständnisse war abgelaufen, nun tickte eine andere Stoppuhr. Marten begriff, dass seine Taten nicht so gewürdigt wurden, wie er sich vorgestellt hatte.
Er ließ Cara los und stand auf. »Geh zu ihm. Rein in die Grube. Beide.«
»Ich sag keinem was. Wirklich. Ich schwöre es!«
»Und er?«
Sie sah sich hastig nach Jeremy um. »Er auch nicht. Jeremy, nicht wahr? Du schweigst? Was ist? Sag was!«
Jeremy starrte in die Grube, und was er sah, ließ sein Herz zu Eis gefrieren.
»Legt euch nebeneinander.«
Jeremy löste seinen Blick von der Leiche der Frau zu seinen Füßen. Noch nie in seinem Leben hatte ihn ein solches Grauen erfasst. War das der Moment, in dem man wahnsinnig wurde? Brock, dachte er. Wie schade, dass ich Ihnen das nicht mehr
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