Das Dorf der Mörder
Zur Linde.«
»Ach ja.« Esther nickte. Ihr Unterkiefer mahlte. »Die sind auch manchmal rüber auf den Hof.«
Gehrings Handy klingelte. Er schlug sich durch das Gebüsch und lief erst auf die Straße, bevor er das Gespräch annahm.
»Ja?«
»Prahm hier. Wir haben den Stall gefunden. Kommen Sie zum Ortsausgang Richtung Baruth. Sie sind doch bewaffnet?«
»Ja. Warum?«
»Wir beobachten den Stall. Vom Hügel aus ist schwer was zu erkennen, aber wir glauben, dass sich drei Personen dort aufhalten. Zwei Männer und eine Frau. Was sollen wir machen?«
»Warten«, antwortete Gehring und lief los.
50
F assungslos starrte Jeremy auf den Leichnam, der halb in den Morast versunken war. Die Kleidung klebte schwarz, schwer und feucht an dem schmalen Körper. Ein viel zu großes Unterhemd, eine Jeans, Turnschuhe. Die Frau musste noch jung gewesen sein, vor allem war sie noch nicht so lange tot wie die anderen, die vor ihr in dieser Grube verscharrt worden waren. Neben ihr aufgereiht lagen die Überreste mehrerer Gerippe.
»Was ist das?«, stieß er hervor. »Ein Massengrab?«
Cara, mit weit aufgerissenen Augen, hing in Martens Armen wie eine Puppe. Er hatte die Spritze wieder herausgezogen, hielt sie aber weiterhin an ihren Hals.
»Das ist Charlies Rache«, sagte Marten. Cara schüttelte den Kopf, war aber nicht mehr in der Lage, etwas zu sagen.
»Sie haben …« Jeremy zählte. »… gemeinsam so viele Menschen getötet?«
»Nicht Charlie, Idiot. Das ist die Rache für ihr Schicksal. – Deine Mutter, Cara, hat nach dir noch drei Kinder geboren. Erinnerst du dich an sie?«
»Nein«, sagte sie tonlos.
»Das dachte ich mir. Deshalb bist du ja hier, um dir das anzusehen. Da unten liegen sie. Da unten liegen deine Schwestern. Drei waren es. Süße, niedliche Mädchen. So süß und niedlich wie du. Ich habe mich oft gefragt, warum ihr leben durftet und die anderen nicht. Vielleicht, weil ihr schon zu groß gewesen wart, als der Horror so richtig anfing.«
»Schwestern?« Caras Frage klang wie ein Röcheln.
Jeremy versuchte, das Grauen zu verstehen, das sich vor seinen Füßen auftat.
»Charlie hat sich das gefragt«, fuhr Marten fort. »Ganz bestimmt hat sie das, obwohl es das Einzige war, worüber sie nie mit mir gesprochen hat. Warum landen die einen in einem Grab, und warum dürfen die anderen leben?«
»Ich … ich weiß es nicht.«
Sie rutschte aus Martens festem Griff, weil ihre Füße sie nicht mehr tragen konnten. Mit einem Ruck zog ihr Peiniger sie wieder hoch. Jeremy wunderte sich, dass sein Gehirn diese Szene überhaupt noch erfassen konnte. Drei Babyskelette, vier Gerippe von erwachsenen Menschen – und eine Leiche. Dazu der Mann, der all das angerichtet hatte, und Cara in seiner Gewalt.
»Wer hat die Babys getötet?«, fragte er. »Wer?«
»Charlie.«
»Nein!« Caras Schrei, langgezogen, aus wunder Kehle, drang Jeremy durch Mark und Bein. »Nein! Nein! Du lügst!«
»Okay. Ich lüge.« Marten grinste. Doch Jeremy erkannte hinter diesem Grinsen die nackte Verzweiflung. Marten tat nur so abgebrüht. In Wirklichkeit litt er maßlos unter dem, was geschehen war, und dem, was noch kommen würde. Trotzdem fühlte Jeremy kein Mitleid. Der Mann war ein Mörder. Egal, aus welchen Gründen.
»Sie?«, fragte er. »Waren Sie es?«
»Nein.«
»Wer dann?«, schluchzte Cara. »Sag es doch endlich, du gottverdammter Dreckskerl!«
»Hab ich doch schon längst. Deine Mutter, cara mia . Deine Mutter war es. Direkt nach der Geburt musste Charlie einen Eimer Wasser holen. Hätte sie doch wenigstens allein gemordet. Hätte sie das alles doch hinter verschlossenen Türen gemacht, während dein Vater betrunken in der Ecke lag. Aber nein, sie musste ja Charlie dazuholen. Die große, kräftige Charlie. Drei Kinder hat sie auf die Welt geholt. Drei Mal hielt sie ihre kleinen Schwestern in den Händen.«
Er lockerte seinen Griff etwas, mit dem Ergebnis, dass Cara zu Boden glitt. Er hockte sich neben sie und presste ihren Oberkörper an seinen, die Spritze im Anschlag. Plötzlich sah Jeremy, dass Marten blinzelte, als ob ihm Staub in die Augen gekommen wäre.
»Zwei haben gelebt. Sie haben geatmet. Geschrien. Sie hatten Hunger. Erinnerst du dich wenigstens an ihre ersten Schreie? Die Schreie deiner kleinen Schwestern?«
»Ja«, flüsterte Cara.
»Gesunde, kleine, rosige Mädchen. Charlie sollte einen Eimer Wasser holen. Sie dachte, um das Klo zu putzen, denn eure Mutter hat auf der Toilette entbunden. Als sie
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