Das Dorf der Mörder
würde.
»Vennloh. Wo werden wir ihn finden?«
»Amerika.«
»Er ist nie dort angekommen. Ich habe noch mehr Namen auf meiner Liste stehen. Namen von Männern, die alle nicht mehr nach Hause gekommen sind. Erich Wahl zum Beispiel.«
»Bin ich meines Nachbarn Hüter?«
»Sie sind die Älteste hier. Sie haben beobachtet, was geschehen ist. Wie ein Haus nach dem anderen verwaiste, wie Ehemänner verschwanden und die Frauen in Todesangst zurück blieben. Sie werden sich getroffen und miteinander geredet haben. Vielleicht wurde hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Meiner ist weg. Deiner auch?«
»Geschwätz interessiert mich nicht.«
»Ich glaube, alle sind tot. Was glauben Sie?«
Largo. Dunkel, tief, grabschwer.
»Alle hatten etwas gemeinsam: Sie haben Margot Rubin vergewaltigt. Nicht nur einmal. Immer wieder, über Jahre hinweg. Wahrscheinlich wurde es irgendwann zu einer Gewohnheit wie die Sportschau oder das Bier zum Feierabend. Was haben Sie gemacht, wenn er bei ihr war? Klavier gespielt?«
Sie schwieg und zog ihre Lippen nach innen über den zahnlosen Unterkiefer.
»Esther, haben die Frauen von Wendisch Bruch ihre Männer getötet? Wo werden wir ihre Überreste finden? Im Schafstall? In einem Abflussrohr? Auf dem Dörrboden?«
Adagio. Immer noch ruhig und leise.
»Wir haben nichts getan.«
»Ja«, sagte Gehring bitter. »Das glaube ich Ihnen aufs Wort.«
»Sie täuschen sich, wenn Sie an Rache glauben. So viel Gefühl bringt keine von uns mehr auf. Wir haben das nicht getan.«
»Wer war es dann?«
»Das ist das Rätsel von Wendisch Bruch. Sie sind ein großer Mann, wenn Sie es lösen.«
Andante. Sie fühlte sich sicher, mit sich im Reinen. Gehring sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten, und er hatte immer noch nichts herausgefunden. Nur, dass die Frauen dieses Ortes härter waren als Granit.
»Wurden auch die Mädchen vergewaltigt? Charlotte und Cara?«
»Ich war nicht dabei.«
Und kälter als Eis. Er stand auf, weil er in ihrer Nähe fror. Brock, Professor Gabriel Brock fiel ihm ein. Dieses Dorf musste für jeden Psychoanalytiker die reinste Wundertüte sein. Er dachte an Schwabs letzte SMS und die kryptischen Worte, die sie ihm übermittelt hatte.
»Und Charlies Schwestern?«, fragte er. »Die anderen Kinder?«
Langsam hob Esther den Kopf und sah ihn mit ihren halb blinden, schwimmenden Augen an wie eine Priesterin, die ein unheilvolles Urteil zu verkünden hat.
»Sie sind tot.«
Gehring schnappte nach Luft und versuchte gleichzeitig, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.
»Wie kamen sie ums Leben?«
»Sie haben nie gelebt.«
»Woher wissen Sie das?«
»Von Bruno.«
Gehring suchte in seinem Kopf nach einem Mann dieses Namens, fand aber keinen.
»Bruno?«
»Walburgas Hund.«
Offenbar waren hier alle übergeschnappt. Nun kam also noch ein Hund ins Spiel.
»Kann er sprechen, dieser Hund? Oder wie darf ich das verstehen?«
»Es ist zwei, drei Mal passiert. Damals. Bevor alle verschwanden. Bruno mochte die Mädchen. Kein Kind wollte mit ihnen spielen. Aber zu Tieren, da hatten sie einen Draht. Manchmal ist Bruno nachts auf den Hof. Walburga konnte nichts dagegen tun. Er ist hinten raus, über die Obstwiesen. Man konnte ihn nicht einsperren. Und dann kam die Nacht, in der wir alle ihn gehört haben.«
Sie senkte den Kopf. Ihre Finger wurden wieder langsam. Larghissimo. Strichen über den Knauf, glitten über die Krümmung.
»Es war unheimlich. Grausam. Fast wie ein Wolf. Die anderen Hunde im Dorf wurden wach, sie fielen ein, heulten den Mond an. Niemand hat ein Auge zugetan.«
»Was, glauben Sie, hatte das zu bedeuten?«
»Keine hat es ausgesprochen, aber alle haben es geahnt. Wir haben sie wochenlang nicht gesehen. Sie sei krank, hieß es. Ein Jahr später das Gleiche. Ein Jahr darauf wieder. Erst dick, dann dünn. Wieder dick, wieder dünn.«
»Und was hat das mit dem Hund zu tun?«
»Er hat bis heute nie wieder so geheult.«
Bruno, der Wächter der Kinder, hatte versagt.
»Warum hat niemand etwas gemeldet?«
Sie schnaubte verächtlich, untermalt von einem schnellen, bösen Allegro.
»Was hätte man sagen sollen? Das halbe Dorf vergewaltigt eine geistesschwache Asoziale, die schwanger wird und ihre Kinder umbringt?«
»Erinnern Sie sich an Werner Leyendecker?«
Sie legte ihren Kopf ein wenig schief und dachte angestrengt nach.
»Nein. Das war keiner von hier. Wer soll das sein?«
»Ein Vertreter für Landmaschinen. Vor langer Zeit war er mal Gast im Wirtshaus
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