Das Dorf der Mörder
jungen Frau einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand, die daraufhin ans andere Ende des Wagens ging, um die neuen Kunden zu bedienen, die von den Tribünen herbeigeströmt kamen.
»… oder dass die Aussagen der Kinder nicht aufgenommen wurden …«
Er trank direkt aus der Flasche. Mit ihr würde er nie wieder ein Wasser teilen. Nachdem er abgesetzt hatte, atmete er tief durch.
»Sie wollen mir drohen?«
»Nein!« Jetzt war die Angst echt. »Da haben Sie mich völlig falsch verstanden. Aber Marquardt und seine Leute sind bekannt dafür, dass sie noch mitten im Prozess ihre Bomben platzen lassen. Was ist, wenn die zuerst mit den Kids reden? Was ist, wenn sie dann den Staatsanwalt überzeugen, dass tatsächlich eine weitere Person im Spiel gewesen sein muss? Dass Rubin vielleicht nur Mittäter war? Und die Polizei versäumt hat, auch in diese Richtung zu ermitteln?«
Gehring lag auf der Zunge, dass es keinen Anlass zu diesen Befürchtungen gäbe, wenn Beara ihr vorlautes, kleines Mundwerk halten würde. Glücklicherweise ging ihm gerade noch rechtzeitig auf, was er gerade gedacht hatte: Eine Polizeibeamtin sollte wider besseres Wissen schweigen. Das war nicht okay. Aber was Beara machte, auch nicht.
»Gut. Ich nehme Ihre Zweifel ernst, so wie ich es bei jedem anderen Bürger auch tue. Ich werde jemanden zu den Kindern schicken. Vom Ergebnis mache ich abhängig, ob ich den Staatsanwalt informiere. Sind Sie damit zufrieden?«
Er konnte ihr ansehen, dass sie das nicht war.
»Ich muss Sie bitten, die Finger von dem Fall zu lassen. Dieses Mal warne ich Sie. Sie gehen zu weit. Bleiben Sie bei Ihren Leisten. Bereiten Sie sich auf die Anhörung und Ihre Vorprüfungen vor. Grüßen Sie den Dienststellenleiter besonders freundlich. Bleiben Sie im Hintergrund. Ja? Haben Sie das verstanden? Und noch was.«
»Ja?«, fragte sie knapp.
»Erzählen Sie niemandem, dass Sie zocken. Und erst recht nicht, mit welchem Erfolg.«
Sein Wechselgeld verbuchte er unter Verlust.
Am nächsten Morgen, einem Montag, der sich gnadenlos blau und schon in seinen ersten Stunden hochsommerlich präsentierte, rief Gehring Professor Haussmann an und verabredete mit dessen Sekretärin einen Telefontermin zwischen sechzehn Uhr fünfzehn und sechzehn Uhr dreißig.
Seine Stimmung, nach diesem Wochenende sowieso auf dem Tiefpunkt, verbesserte das nicht. Er überlegte sich, wie Kollegen darauf reagieren würden, wenn auch er Telefontermine vergäbe. Dabei hatte er noch nicht einmal eine Sekretärin.
Eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Gespräch nahm er sich noch einmal Haussmanns Obduktionsbericht vor. Aber spätestens, als er an die Stelle mit dem aspirierten Blut kam, das Leyendecker vor seinem Tod noch eingeatmet hatte, blätterte er weiter zu den Blutspurenmustern. Tropf- und Spritzspuren an der Futterraufe, Blutabrinnspuren an Rubins Schubkarre. Mulch aus dem Gehege in den Stiefelprofilen, und an einem der winzig kleinen Partikel haftete ein verräterischer Rest von Leyendeckers DNA . Dazu kamen die Spuren an Kleidung und im Bad, und sie waren es, auf die sich, neben Rubins Geständnis, auch die Anklage stützte. Das fast perfekte Verbrechen. Und die echte Drecksarbeit hatten die Pekaris gemacht.
Guaifenesin. Diesen Stoff hatte Leyendecker im Blut gehabt, und zwar in der zweieinhalbfachen Dosis, die man Pferden gab. Ein Muskelrelaxans, das man in der Tiermedizin meist zu einem sogenannten Triple Drip mixte – gemeinsam mit Xylazin und Ketamin, und das so kombiniert zur Narkose führt. Einzeln verabreicht, und dann auch noch in dieser Menge, war das Opfer für die Dauer von mindestens dreißig Minuten komplett gelähmt. Die drei- bis vierfache Dosis hätte zu Atemlähmung und Tod geführt. Da hatte jemand sein Handwerk verstanden.
Er blätterte weiter zu den Fotos. Rubins Wohnung hinter dem Wirtschaftshof. Fast idyllisch mutete der kleine, ebenerdige Bungalow inmitten des wuchernden Gestrüpps und der Erd- und Schuttberge an, die vielleicht noch aus dem Krieg stammten. Die hinterste, vergessene Ecke des Tierparks. Erbaut worden war das Häuschen in den sechziger Jahren. Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer. Couch, Fernseher, Bücherregal, Bilder an den Wänden. Tiere im Zoo, die hatte Rubin selbst gemalt.
Die Aussagen ihrer Kollegen. Wenig Kontakt, kaum Be suche. Ihr Lebenslauf. Lernte man als Tierpflegerin auch den Umgang mit Medikamenten? Sie wollte das Guaifenesin aus dem Schrank des Tierarztes genommen haben. Zugang verschafft hatte sie
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