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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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rot-weißen Kunststoffkette, führte weiter zum Wirtschaftshof.
    Sanela erinnerte sich, dass sie diese Strecke mit Leyendeckers Kopf in einer Kiste im Elektroauto eines Tierparkmitarbeiters gefahren war. Hinter der Kette begann der Bereich, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Sie sah sich schnell um. Niemand war ihr gefolgt. Pinguine, Geparden und Präriehunde lagen links von ihr, dahinter hatte Charlotte Rubin, sofern man ihren Ausführungen Glauben schenkte, Leyendecker über zwölf Stunden lang gefesselt, geknebelt und betäubt, an einer uneinsehbaren Stelle abgelegt und gewartet, dass es dunkel wurde.
    Sie stieg über die Kette und schlug sich nach links in die Büsche. Natürlich hatte die Spurensicherung alles abgesucht. Sanela war sich nicht sicher, nach was sie Ausschau hielt. In erster Linie wollte sie einen Eindruck gewinnen. Die dürren Worte, mit denen der Tathergang in Charlotte Rubins Ermittlungsakte beschrieben worden war, waren vielleicht mit einer Landkarte vergleichbar. Es reichte nicht, sie zu studieren. Um das Gelände zu kennen, musste man es begehen.
    Sie folgte einem kaum erkennbaren Trampelpfad. Gold regen, Kirschlorbeer und junge, wild gewachsene Bäume erschwerten das Durchkommen. Nach zwanzig Metern erreichte sie die Stelle. Geknickte Zweige. Ein Handschuh der Spurensicherung, wahrscheinlich beim Einpacken verloren. Sie ging in die Knie und berührte den lockeren Waldboden. Ihre Schulter schmerzte. Sie hatte es dem Amtsarzt verschwiegen.
    Ein gutes Versteck für einen Körper, den keiner finden sollte. Von ferne konnte sie die Geräusche des Tierparks hören – Lachen, laute Stimmen, das Kreischen der Affen, ein Raubtier brüllte. Fütterungszeit.
    Über ihr zwitscherten die Vögel in den Baumkronen. Sanela erinnerte sich daran, wie warm dieser Tag im Mai gewesen war, der Leyendeckers letzter werden sollte. Auftakt zu einer Reihe noch schönerer, noch wärmerer Tage, die in eine ausgedehnte Hitzeperiode mündeten, unter der die ganze Stadt mittlerweile litt. Damals war es wie das Erwachen aus dem Winterschlaf gewesen. Eine Verheißung von Sommer. Jetzt war er da, und alle beschwerten sich.
    Sie stand auf und schob die Lorbeerzweige zur Seite. Die Rückansicht des Alfred-Brehm-Hauses kam ins Blickfeld. Selbst wenn Leyendecker gestöhnt und gerufen hatte, niemand hätte ihn gehört. Dieses Versteck untermauerte die These, dass der Mörder oder die Mörderin das Gelände kannte – und nicht nur seinen Lageplan.
    Sie kehrte zu dem abgesperrten Weg zurück und lief ihn weiter. Niedrige graue Baracken kauerten im Wald. Die Gehege um sie herum waren leer. Sanela vermutete Aufzucht oder Quarantäne. Die Tiere waren vor der Hitze in die kühleren Häuser geflüchtet. Sie wusste, dass weiter vorn der Wirtschaftshof lag und rechts davon die Futtertierstation. Ein Pfau kam ihr entgegenstolziert. Als sie das Geräusch eines Wagens hörte, schlug sie sich in die Büsche und wartete, bis es vorüber war. Sie wollte nicht entdeckt werden. Sie wollte keinen Ärger.
    Unbehelligt gelangte sie bis zum Hof. Auf der anderen Seite lag die Tierklinik. Hinter dem Stamm eines uralten Ahorns wartete sie, bis sie sicher sein konnte, dass niemand die Verwaltung verließ oder durch das Wirtschaftstor hereinkam. Sie huschte über den Platz und erreichte die Knochentonnen. Der Gestank kam ihr unerträglich vor.
    Es war kein gutes Gefühl, an diesen Ort zurückzukehren. Der Schlag gegen sie war mit großer Wucht und dem Willen zum Töten ausgeführt worden. Wenn Rubin wirklich eine Einzeltäterin war – und Sanela zweifelte mehr und mehr an dieser Theorie –, was war dann geschehen in der kurzen Zeit, die Sanela sie allein gelassen hatte? Was hatte in der Frau eine solche Rage freigesetzt? War es vielleicht gar nicht Charlotte Rubin gewesen, die sie niedergeschlagen hatte?
    Sanela holte eine mehrfach zusammengefaltete Kopie aus ihrer Hosentasche und verglich das vor ihr liegende Areal mit der Zeichnung auf dem Papier. Sie stand nun mit dem Blick in nördliche Richtung. In ihrem Rücken spürte sie die beruhigende Wärme der Ziegelwand. Vor ihr lagen, verborgen von Bäumen und nachlässig gestutztem Gebüsch, die Wohnbaracken. Auf dem Plan waren fünf dieser kleinen Häuschen verzeichnet. Das vorderste hatte Rubin gehört. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sie hatte alles unter Kontrolle. Rubin saß im Knast. Falls es einen zweiten Täter geben sollte, hatte er schon längst das Weite gesucht.

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