Das Dorf der Mörder
Es gab keinen Grund, nervös zu sein. Sie durfte sich nur nicht erwischen lassen.
Noch einmal kamen Bedenken. Ihre Bewerbung für die Hochschule, Gehrings fast aggressive Ablehnung, sogar Haussmann, der ausgesprochen freundlich zu ihr gewesen war, als er in ihr die Frau wiedererkannt hatte, die ihm Leyendeckers Kopf gebracht hatte, der ihr aber auch dringend geraten hatte, sich nicht weiter einzumischen – all das müsste doch eigentlich reichen, dass sie den Mund hielt und den Fall Rubin einfach vergaß. Warum stand sie dann im Tierpark neben den Knochentonnen und hatte vor, in Rubins Haus einzusteigen?
Weil etwas an der ganzen Geschichte nicht stimmt, machte sie sich selber Mut. Entweder bin ich eine gute Polizistin, oder ich höre auf das, was andere mir sagen, damit ich ihre Arbeit nicht störe.
Rubin funktionierte. Ob als Rattenzüchterin oder Mörderin – sie akzeptierte die Rolle, die ihr das Leben zuwies. Es hatte einen Morgen in Sanelas Kindheit gegeben, an dem sie, um zu überleben, genau das Gleiche getan hatte.
Du hast nichts gesehen. Verstanden? Sonst bist du tot.
Vielleicht war jetzt der Moment gekommen, diesen Morgen endlich auszulöschen.
Seit die KTU Rubins Bungalow durchsucht hatte, war niemand mehr dort gewesen. Sanela riss das Klebeband ab und benutzte den scharfkantigen Bart ihres Autoschlüssels, um das Siegel aufzuritzen. Den Schnapper im Schloss drückte sie mit ihrer Kreditkarte zurück. Angst vor Einbrechern hatte Rubin nicht gehabt. Wahrscheinlich gab es auch keinen Grund dafür. Der Wachschutz und die hohen Mauern rund um das Gelände hielten Eindringlinge ab. Stieg doch jemand über die Mauern oder wartete im Park auf den Schutz der Dunkelheit, dann tat er das, um wertvolle und seltene Tiere zu stehlen. In den Unterkunftsbaracken gab es nichts zu holen.
Sie kam in einen engen Flur, von dem rechts das Badezimmer und die Küche abgingen, links ein kleines Schlafzimmer und das Wohnzimmer. Auf den ersten Blick ein sauberes, aber recht karges Wohnen. Rubin hatte nicht viel für Dekoratives übrig. Vor dem Fenster hingen weiße Gardinen, wohl ein Fertigzuschnitt, denn sie endeten auf halber Höhe des Heizkörpers. Auf dem Couchtisch lagen einige Zeitungen und ein aufgeschlagener Roman, irgendeine englische Liebesschmonzette von Jane Austen. Eine Nussbaumanrichte bot Platz für weitere Bücher, Gläser und ein paar CD s. Klassische Musik. Rilke. Hesse. Hustvedt. Coelho. Sieh an. Belesen und romantisch. Das hätte sie Charlie gar nicht zugetraut. Sanela sah sich um und entdeckte eine kleine Anlage neben dem Sofa. Sie tippte auf den CD -Auswurf. The Celtic Viol , Jordi Savall. Irische Musik des Mittelalters. Die Frau verbarg ihre Facetten gut.
Ein Röhrenfernseher, zwei Kunstledersessel, ein Flickenteppich auf altem Linoleum, das wohl wie Holzparkett aussehen sollte. Es glänzte, auch die Fenster waren noch sauber. Rubin schien ihr kleines Reich gemocht zu haben. An den Wänden hingen Aquarelle. Zebras, Antilopen, Elefanten. Sie waren hübsch und mit echtem Talent gezeichnet. Sanela entdeckte, dass jedes Bild mit den Buchstaben CR signiert war. Auch wenn alles von der Spurensicherung durchsucht worden war und deshalb etwas Unordnung herrschte, konnte man eines erkennen: Charlie hatte versucht, eine Heimat zu finden und sie gleichzeitig vor den Augen der anderen zu verbergen.
Das Badezimmer müsste eigentlich unter Denkmalschutz gestellt werden. Ein uraltes, aber peinlich sauberes Klo mit einer Ziehspülung. Gelbe Kacheln an den Wänden, eine in die Jahre gekommene, zerkratzte Badewanne. Es roch leicht nach Zitrus und Desinfektionsmittel. Auf dem Waschbecken stand ein Zahnputzbecher, im Spiegelschrank bewahrte Rubin einige wenige Kosmetika und frei verkäufliche Arzneimittel auf.
Das Einzelbett im Schlafzimmer war zerwühlt, der Kleiderschrank stand halb offen. Charlie lebte allein, das war offensichtlich. Ihre Kleidung war praktisch und schlicht, wie Sanela nach einem kurzen Check feststellte. Auf dem Nachttisch stand ein Wecker. Die eingestellte Zeit war vier Uhr fünfzehn. Kurz vor Morgengrauen war sie ein letztes Mal aufgestanden, um Leyendeckers Reste aus dem Gehege zu entsorgen, um dann, pünktlich um acht, zu ihrer Schicht zu erscheinen, als wäre nichts gewesen.
Der Clown war am Vormittag noch einmal zurückgekom men. Warum? Die Kleidung des Toten war nicht gefunden worden. Auch sein Portemonnaie, sein Handy und seine Uhr, falls er eine getragen hatte, waren verschwunden.
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