Das Dorf der Mörder
den ersten Gang einlegen und langsam die Straße hinunterrollen. In einer Stunde wäre sie in Berlin.
Stattdessen zog sie den Schlüssel aus dem Schloss und stieg aus. Sie war versucht, zu Walburga zu gehen und ihr zu sagen, was sie vorhatte. Dann ließ sie es bleiben. Sie drehte sich um und lief die glutheiße Straße hinunter.
26
P rofessor Brock kam am Mittag von der Staatsanwaltschaft zurück. Miezes verwaisten Schreibtisch quittierte er mit einem missbilligenden Brummen, womit er weniger den erneuten Arbeitsausfall seiner Sekretärin kritisierte, sondern den Umstand, sich seinen Tee selbst zubereiten zu müssen. Jeremy, der ihn bereits ungeduldig erwartet hatte, erbot sich, seinem Chef diese Arbeit abzunehmen, und kam wenig später mit dem Gewünschten in Brocks Arbeitszimmer.
Der Professor saß über der Akte Rubin. Er bedankte sich für den Tee mit einem kurzen Nicken.
»Und?«, fragte Jeremy. »Was sagt Rütter?«
Rütter wäre der leitende Staatsanwalt in diesem Verfahren gewesen.
»Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es keine Anklageerhebung gegen uns geben. Das ist gut. Trotzdem mache ich mir Vorwürfe. Ich hätte schon viel früher bemerken müssen, dass Gefahr im Verzug ist. Wo ist Frau Spornitz?«
»Ich weiß es nicht. Sie hat die Praxis verlassen. Wahrscheinlich ist sie zurück nach Dessau.«
»Sie hätten sie aufhalten müssen.«
»Das ging nicht. Es war ein Mann von der Kripo hier …«
»Die Kripo?«
Jeremy fasste den Besuch von Kriminalhauptkommissar Gehring in knappen Worten zusammen. Brock hörte aufmerksam zu.
»Dann sind die Ermittlungen in diesem rätselhaften Tierpark-Mord also doch noch nicht abgeschlossen? Das erstaunt mich. Wirklich. Obwohl ich immer das vage Gefühl hatte, dass trotz Rubins Geständnis etwas fehlte. Er hat nicht gesagt, was?«
Jeremy hob die Schultern. »Er wird sich noch einmal bei Ihnen melden.«
Brock nickte, nahm die Brille ab und ließ sie an einem Bügel spielerisch über der Schreibtischplatte tanzen.
»Fast genau zwanzig Jahre liegen zwischen Rubins Weggang aus diesem Dorf und dem erneuten Ausbruch ihrer Psychose. Es ist nicht unsere Aufgabe, einen Mord aufzuklären. Aber etwas muss der Auslöser gewesen sein. Es liegt in Charlotte Rubins Kindheit. Wir brauchen ihre Schwester. Nur sie kann …« Brock brach ab. »Frau Rubin ist tot. Damit ist der Fall für uns erledigt, nicht wahr?«
Jeremy musterte den Professor und hatte das Gefühl, dass dem eben nicht so war.
»In Ihrem Gutachten hätten Sie Charlotte Rubin die Zurechnungsfähigkeit attestiert. Damit wäre sie für diesen Mord voll verantwortlich gewesen.«
Brock steckte sich den Bügel seiner Brille in den Mund und kaute darauf herum.
»Glauben Sie, sie hat es getan?«, fragte Jeremy.
»Ich kann mich nur wiederholen: Das herauszufinden ist nicht unsere Aufgabe. Wir hatten einen klar umrissenen Auftrag. Und der besteht nicht darin, die Anlasstat zu analysieren, sondern die Person.«
»Ich glaube, der Kommissar hat Zweifel.«
»Wie ich vermutet habe. Aber woran?«
Jeremy suchte nach Worten. »Ich kann es nicht genau erklären. Es war die Art, wie er seine Fragen gestellt hat. Ich hatte das Gefühl, die Sache ist für ihn noch nicht vom Tisch. Etwas scheint unklar zu sein. Charlotte Rubins Tatbeteiligung ist eindeutig erwiesen. Ebenso die Umstände. Vielleicht hatte sie einen Helfer?«
Brock brummte etwas, das man mit viel gutem Willen für Zustimmung halten konnte.
»Mir fehlt etwas … Frau Spornitz, wo kann ich sie erreichen? Ich möchte gerne noch einmal mit ihr reden. Nur, um für mich noch einige Punkte zu klären.«
»Sie geht nicht an ihr Telefon.« Jeremy merkte, wie sein Herzschlag schon bei dem bloßen Gedanken an Cara schneller wurde. »Sie gibt uns einen Teil der Schuld am Tod ihrer Schwester.«
Brock musterte ihn ernst. »Diesen Schuh dürfen Sie sich niemals anziehen. Rubins Selbstmord ist die Spätfolge von fürchterlichen Dingen, mit denen wir nichts zu tun haben.«
»Was meinen Sie?«
»Manisch-depressive Züge, Paramnesien, Todessehnsucht. Behandlungsbedürftig, sicher, aber dennoch keine so schwerwiegende seelische Deformation, dass eine Unzurechnungsfähigkeit attestiert werden musste. Cara Spornitz ist im selben Haus wie ihre Schwester aufgewachsen.«
»Was meinen Sie?«, wiederholte Jeremy. Er spürte, wie seine Kehle trocken wurde.
»Sie hat dieselben Verwundungen wie Charlotte Rubin davongetragen. Sie ist jünger, es kann also sein, dass sie im Gegensatz zu
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