Das Dorf der Mörder
ob sich die Gardine am Wohnzimmerfenster minimal bewegte. Sie sah genauer hin. Im Fensterrahmen war kein Glas mehr. Es war der Wind, der mit dem mürben Stoff spielte.
»Und da wohnt bestimmt keiner mehr?«
Walburga schob ihr die Schüssel mit den Kartoffeln zu. Sanela bediente sich.
»Niemand. Noch nicht mal Obdachlose kommen hier vorbei. Obwohl das eigentlich mal eine Idee wäre. Die Leute könnten Land und Häuser geschenkt bekommen. Der alte Fritz hat so die ganze Mark Brandenburg besiedelt. Ich verstehe nicht, warum die sich lieber in ihren Zweiraumwohnungen zu Tode saufen, statt irgendwo neu anzufangen.«
»Ist vielleicht zu viel Arbeit.«
Sanela zerteilte ihr Essen in kleine, mundgerechte Portionen, legte das Messer weg und fing an, nur noch mit der Gabel zu essen. Walburga machte das Gleiche.
»Wovon leben Sie eigentlich?«
»Rente. Und ich verpachte Land. Es ist nicht viel, aber es reicht zum Überleben.«
»Und die anderen hier?«
»Das Gleiche. Rente, Stütze, irgendwie kommt man über die Runden. Muss ja.«
Walburgas Offenheit hatte sich in eine vorsichtige Zurückhaltung verwandelt. Sie tat zwar so, als ob ihr Sanelas Job nichts ausmachen würde, aber sie behielt ihr Insiderwissen wieder für sich.
»Ich war eben am Aussiedlerhof. Wann ist er denn verlassen worden?«
»Das weiß ich nicht genau. Wir hatten mit denen ja nicht viel zu tun. Das ist wohl schleichend gekommen. Die Äcker hat der Alte versoffen. Als er starb, blieb die Kleine noch so lange, bis sie was anderes gefunden hat.«
»Die Kleine?«
»Die Jüngste von denen. Cara. Sie war vierzehn oder fünfzehn, als der Alte starb.«
»Hat sich das Jugendamt nicht um sie gekümmert?«
Walburga hob die buschigen Augenbrauen. »Welches Jugendamt? Das war drei, vier Jahre nach der Wende. Da saßen ganze Jugendämter noch geschlossen im Knast.«
Sanela gab ein zustimmendes Murmeln von sich. Sie wollte den zarten Anflug von Vertrauen nicht gleich wieder mit einer Bemerkung zerstören, die natürlich etwas damit zu tun gehabt hätte, wie wenig man in so einem kleinen Dorf eigentlich aufeinander achtete.
»Das ist wirklich lecker.«
Walburga strahlte. »Vom Metzger in Jüterbog. Kommt jede Woche einmal mit seinem Wagen und klappert die Gegend ab.«
»Was ist denn mit dem Metzger hier passiert? Und der Fleischerei?«
Das Gesicht der Frau verschloss sich. »Den gibt es nicht mehr.«
»Und?«
Walburga aß schweigend weiter. Sanela legte die Gabel auf dem Rand des Tellers ab.
»Frau Wahl. Ich bin nicht hier, um zu ermitteln. Ich will nur begreifen, was passiert ist. Charlotte Rubin ist genauso wie ihre Schwester sehr, sehr jung ausgezogen. So jung, wie es eigentlich hierzulande nicht üblich ist. Und nach und nach sind auch die Männer in Wendisch Bruch weg. Was ist mit dem Metzger passiert?«
»Nichts. Was soll passiert sein? Er hat zugemacht und ist mit seiner Frau an die Costa Blanca.«
»Wann?«
Walburga kniff die Augen zusammen.
»Ach, das ist lange her. Vor zwanzig Jahren? Meine Güte, wie die Zeit vergeht.«
»Haben Sie mal wieder was von den beiden gehört?«
»Nein. Doch! Sie haben eine Karte geschickt. Vom Meer.«
»Mehr nicht?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Und die anderen?«
»Welche anderen?«
»Die Männer. Was ist aus denen geworden?«
Die Frau senkte den Kopf und begann, an den Plastikfransen der Decke zu zupfen.
»Walburga, was ist aus Ihrem Mann geworden?«
Beinahe hatte Sanela Mitgefühl. Doch das verflog, als sie an den Bäcker dachte. Die Lindenwirtin suchte in der Tasche ihres Kittelkleides nach einem Papiertaschentuch, um sich damit erst über die Augen zu wischen und dann die Nase zu putzen.
»Er ist weg«, sagte sie schließlich.
»Wie, weg?«
»Weg. Verschwunden. Er sagte, er fährt für ein paar Tage nach Berlin, und ist nicht mehr wiedergekommen.«
»Und dann? Sind Sie zur Polizei?«
»Nein. Doch. Ja.«
»Und?«
»Die haben mir gesagt, in den meisten Fällen tauchen Vermisste von alleine wieder auf. Nach drei Tagen oder so. Wenn er dann nicht wieder da wäre, sollte ich Anzeige erstatten.«
»Haben Sie das getan?«
Walburga antwortete nicht. Sanela wartete. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das Gespräch führen sollte. Natürlich hatte sie die Richtlinien der Vernehmungslehre studiert. Aber saß sie einer Zeugin oder einer Beschuldigten gegenüber? Waren sie noch bei einer Spontanaussage, oder hatten sie den Rubikon zur sachverhaltsbezogenen Frage überschritten? Befanden sie sich in
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