Das Dorf der Mörder
der Kontakt-, der Erzähl- oder der Fragephase? Und warum machte sie sich darüber eigentlich Gedanken, wo dieses Gespräch doch nichts anderes war als die Unterhaltung zweier Frauen beim Mittagessen. Aber Walburga sah das anders.
»Ich hab schon viel zu viel erzählt.« Sie schob den halb leergegessenen Teller zur Seite und trank einen Schluck Holunderblütenschorle.
Sanela überlegte sich ihre nächsten Worte genau. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Mann seit … seit wann?«
»Neunzehnhundertvierundneunzig.«
»Seit achtzehn Jahren vom Zigarettenholen nicht zurückgekommen ist?«
Walburga zuckte mit den Schultern.
»Und Sie haben keine Anzeige erstattet?«
»Die Polizei hat sie ja nicht angenommen.«
»Aber Sie sollten sich doch melden, wenn er nicht wieder auftaucht!«
Sanela stand auf und ging zum Fenster. Sie hatte das Gefühl, wenn sie noch eine Sekunde länger sitzen bliebe, würde sie explodieren. Sie stützte sich mit den Handflächen auf dem Fensterbrett ab und hob die Fersen. Die Muskelanspannung tat gut. Langsam ließ sie sich wieder sinken und drehte sich zu Walburga um.
»Ich muss das melden.«
Walburga zuckte mit den Schultern, dabei zupfte sie an ihrem Taschentuch herum.
»Hat ihn denn niemand vermisst außer Ihnen?«
»Wer sagt denn, dass ich ihn vermisst habe? Zwanzig Jahre waren wir verheiratet. Zwanzig Jahre Knochenarbeit, von morgens früh bis abends spät. Ab und zu ist ihm die Hand ausgerutscht, und wenn er betrunken war, hat er kein Nein akzeptiert. Dann hieß es Augen zu und an England denken. Unserem Sohn hat er auch früh beigebracht, wo der Bartel den Most holt. Seine Verwandten sind vor dem Mauerbau in alle Welt. Jedes Jahr zu Weihnachten bekommen sie eine Postkarte von uns. Keiner vermisst ihn.«
»Von uns?«
»Von mir. Mit Grüßen von uns beiden. Er hatte es nicht so mit dem Schreiben.«
»Und die Leute hier im Dorf?«
»Er war ja nicht der Erste.«
Sanela zog ihren Stuhl um den Tisch herum und platzierte ihn vor Walburga, bevor sie sich auf ihn setzte.
»Was heißt das?«
»Vor ihm sind schon zwei andere abgehauen. Unser Metzger mit seiner Frau. Und Harald Schmidt. Nicht der Harald Schmidt, der andere eben.«
»Und wo sind die geblieben?«
»Walter und Gisela an der Costa Blanca. Das hab ich doch schon gesagt. Harald ist irgendwas mit Zeitschriftenabos geworden. Keiner weiß genau, wo er jetzt ist. Aber es geht ihm gut. Ab und zu ruft er mal meinen Sohn an, die beiden sind befreundet.«
»Und Ihr Erich? Haben Sie von dem jemals noch etwas gehört?«
»Nein. Aber wir waren nicht so eng miteinander.«
Sanela riss die Augen auf. So eine unglaubliche Geschichte hatte sie noch nie gehört. Und Geschichten, da waren sich alle Kollegen einig, hörten Streifenpolizisten viele. »Sie waren verheiratet. Also muss es doch eine gewisse Nähe gegeben haben.«
»Er hat mich geschlagen! Haben Sie das nicht mitbekommen? Hören Sie eigentlich nicht zu?«
»Doch. Natürlich.«
»Er hat mich verprügelt und an den Haaren ins Bett gezogen. Dann hat er seinen Frust an mir ausgelassen. Mich beschimpft, mich getreten, mich …« Sie zog die Nase hoch. »Er konnte es ja machen. Es war ja keine Straftat.«
Vergewaltigung in der Ehe. Erst seit 2004 ein Offizialdelikt. Mitte der Neunziger musste es ein Tabuthema gewesen sein, vor allem in so einem kleinen Dorf. Sanela war versucht, ihre Hand auf den Arm der geprüften Frau zu legen, aber sie traute sich nicht.
»Es tut mir leid. Wirklich. Trotzdem hätten Sie eine Vermisstenanzeige aufgeben müssen.«
»Natürlich. Sie haben Recht. Aber je länger er weg war, desto absurder wurde die Vorstellung. Und jetzt? Was soll ich denn antworten, wenn der Polizist mich fragt, seit wann Erich Wahl aus Wendisch Bruch vermisst wird?«
»Ich weiß es nicht.« Sanela schüttelte den Kopf. Von so einer absurden Ehe hatte sie noch nie gehört. »Vielleicht, dass es Ihnen jetzt erst aufgefallen ist?«
Plötzlich fing Walburga an zu kichern. Es war ein fast hilfloser Gefühlsausbruch, der die düstere Spannung zerriss. Sie legte den Kopf in den Nacken und kicherte weiter, lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sanela war schockiert, doch etwas an diesem Lachen war so ansteckend, dass Sanela irgendwann, ohne es zu wollen, mit einfiel. Sie schütteten sich aus vor Lachen. Immer wenn Sanela aufhören wollte, brach auch Walburga ab. Dann war ein paar Sekunden Stille, sie sahen sich an und prusteten wieder los.
Ich fasse es
Weitere Kostenlose Bücher