Das Dorf der Mörder
Die Nähe zu den Meisterhäusern in der Gropiusallee ließ vermuten, dass auch dieses Anwesen in den zwanziger Jahren auf einem Reißbrett entstanden war. Jeremy wunderte sich, wie modern und zeitlos diese Gebäude immer noch wirkten, obwohl sie fast hundert Jahre alt waren.
Er überquerte die Straße. Die Rollläden im Erdgeschoss waren heruntergelassen. Er legte die Hand über die Augen und versuchte, durch das Drahtglas der Eingangstür einen Blick ins Innere zu werfen. Unmöglich. Aber er sah einen Schatten über den Flur huschen und klingelte.
Lange passierte nichts. Erst nach dem vierten Mal hörte er Schritte. Der Schatten tauchte wieder auf, wurde größer, verwandelte sich in die Gestalt einer Frau. Sie öffnete die Tür und sah in Jeremys enttäuschtes Gesicht.
Wie alt mochte sie sein? Vierzig? Fünfzig? Schmal, fast hager, mit wachen grauen Augen in einem länglichen Gesicht. Um ihren Mund hatte sich ein herber Zug eingegraben, die schmale Nase dominierte ihre Züge. Ihre mittelbraunen Haare, von ersten grauen Strähnen durchzogen, hatte sie zu einem lockeren Dutt hochgesteckt. Einige Locken fielen heraus und kringelten sich über Stirn und Ohren.
»Wir haben geschlossen.«
Jeremy nickte. »Mein Name ist Jeremy Saaler. Ich bin ein Freund von Frau Spornitz. Ich möchte sie sprechen.«
Ein minimales Zucken der Augenlider. Jeremy erinnerte sich daran, dass er die Vorlesungen in Verhaltenspsychologie fast gänzlich verschlafen hatte. Ärgerlich, denn die Koryphäen auf diesem Gebiet konnten Ausdruck und Kontrolle in der Mimik ihres Gegenübers oft besser deuten als es selbst.
»Sie ist nicht da.«
»Aber sie wohnt doch hier?«
Klarer, fester Blick. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle und wollte sich nichts anmerken lassen.
»Sie können gerne eine Nachricht hinterlassen. Ich leite sie weiter.«
»Ja.« Jeremy suchte umständlich nach einem Kugelschreiber und Papier, fand aber nichts weiter als einen Tankbeleg. Die Frau beobachtete ihn eine kurze Weile und gab dann den Weg frei.
»Kommen Sie rein.«
Sie wartete, bis er den breiten, halbdunklen Flur betreten hatte, und schloss nach ihm die Tür. Ein Schild an der Wand verwies auf den Wartebereich – ein großer Raum zur Rechten, ausgestattet mit Buchenholzstühlen und einem Tisch mit zwei Stapeln Zeitschriften. Der Fußboden war gekachelt, in der Mitte des Raumes senkte er sich zu einem Abfluss. Ein Geruch nach Desinfektionsmitteln und nassen Tieren lag in der Luft.
»Hier entlang.«
Er folgte ihr. Sie hielt den Rücken gerade wie jemand, der sich oft beobachtet fühlt. Sie führte ihn in ein kleines, ordentliches Büro. Ein halbhohes Regal vor dem Schreibtisch diente als Tresen für die Besucher. Darauf ein Kugelschreiber an einer Kette, Prospekte und ein Schreibblock mit dem Aufdruck der Praxis, ihrer Telefonnummer und den Öffnungszeiten.
Er schrieb »Bitte melde dich, Jeremy« und faltete das Papier zusammen.
»Haben wir vor ein paar Tagen miteinander telefoniert?«, fragte er.
»Haben wir?« Sie trat an den Schreibtisch, nahm eine Patientenakte und ordnete sie in die Hängeregistratur an der Wand ein. Überall auf dem Tisch lagen Heftklammern.
»Ich bin Psychologe in der Praxis, die das Gutachten über Charlotte Rubin erstellt hat.«
»Charlie.« Die Frau schob die Registratur zurück.
»Kannten Sie sie?«
»Nein. Aber ich arbeite schon ein paar Jahre in dieser Praxis, da bekommt man das eine oder andere mit. Zwangsläufig.«
Sie nahm auf dem Stuhl Platz und begann, Radiergummis in Schubladen zu verstauen und Stifte in Köcher zu stecken. Also all die kleinen Arbeiten, die zeigen sollten, dass ein Gespräch beendet beziehungsweise vertane Zeit war. Er reichte ihr das zusammengefaltete Papier.
»Sagen Sie ihr, es ist dringend.«
»Natürlich.«
Sie legte die Nachricht vor sich ab. Das Papier entfaltete sich etwas, vermutlich würde sie seine Worte lesen können.
»Ich muss noch die ganzen Abrechnungen machen. Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann?«
»Nein. Danke.«
Er verließ das Haus, setzte sich in seinen Wagen und wartete. Am späten Abend hatte er das Gefühl, jemand wäre im ersten Stock ans Fenster getreten und riskierte einen schnellen Blick durch die zugezogenen Jalousien. Aber er konnte sich auch täuschen. Um elf kam Caras Sprechstundenhilfe aus dem Haus, schloss sorgfältig ab und ging mit geradem, durchgestrecktem Rücken zu einem Smart, setzte sich hinein und fuhr los.
Er blieb sitzen. Wenn sie im Haus
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