Das Dorf der Mörder
ihrer Schwester gar nicht weiß, was geschehen ist. Und dennoch ist sie traumatisiert. Sie hat das Gleiche erlebt, aber aus einem anderen Blickwinkel. Dem eines Kindes. Beide, Charlotte und Cara, hätten sich schon längst in eine Therapie begeben müssen.«
»Was könnte das sein?«
Brock lehnte sich zurück. »Etwas, das so furchtbar war, dass Charlotte Rubin keine andere Möglichkeit mehr sah, als sich selbst auszulöschen. Das ist es, was mir zu schaffen macht. Dass ich das übersehen habe.«
»Und Cara? Ist sie auch suizidgefährdet? Befürchten Sie, dass sie eine ähnliche Entwicklung durchmachen könnte wie ihre Schwester?«
»Das weiß ich nicht. Sie ist anders. Offensiver. Lebenszugewandter. Ein Angreifer. Jemand, der lieber zurückschlägt, als sich demütigen zu lassen.«
Vor Jeremys Augen tauchte Caras Bild auf: das sonnengelbe Kleid, ihr leichtfüßiger Gang, die roten, lächelnden Lippen. Aber auch die plötzliche Wut, die eiskalte Verachtung, als er ihr zu nahe gekommen war. »Sie hat damals vielleicht gar nicht gewusst, was Charlie passiert ist?«
Brock musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Was vermuten Sie denn?«
»Inzest. Vergewaltigung. Man liest ja so viele schreckliche Dinge, aber ich glaube fest daran, dass Cara noch zu klein war, das mitzubekommen, geschweige denn zu verstehen. Die Angst um ihre Schwester hat sie in eine, wie ich finde, gesunde Wut umgemünzt, für die sie jetzt, ebenfalls folgerichtig, Schuldgefühle quälen. Es gibt eine Menge Leute auf der Welt, die weitaus überspannter sind als sie und weniger Schlimmes erlebt haben.«
»Wahrscheinlich haben Sie Recht.«
Brock klappte die Akte zu und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Stelle auf dem Nasenrücken, wo seine Brille gesessen hatte. »Trotzdem würde ich gerne mit ihr reden.«
»Sie wird sich weigern. Sie hat schon als Kind die gesamte Verantwortung alleine tragen müssen. Die Selbstmordversuche ihrer Schwester haben ihr sehr zugesetzt. Einmal hat sie sie vom Dachbalken abgeschnitten. Sie liebt Charlie, und gleichzeitig hasst sie sie, weil sie ihr das angetan hat. Ich will nicht wissen, was in ihr vorgegangen ist, als sie von dem Mord im Tierpark erfahren hat. Das muss man auch erst einmal verkraften. Die eigene Schwester bringt einen Mann auf so bestialische Weise um.«
Brock fixierte ihn mit seinen ruhigen, hellen Augen. »Charlotte Rubin war kein Täter, sie war ein Opfer. Ihr ganzes Leben lang. Bis zum Schluss.«
»Wie … wie meinen Sie das?«
»Ihre Suizidversuche waren der letzte Versuch, einer ausweglosen Situation zu entrinnen. Dabei ging sie autoaggressiv vor und wählte die harte, radikale Methode: erhängen, hinunterstürzen, erstechen, aufschneiden und was Sie sonst noch erwähnt haben. Sie wollte weder gefunden noch gerettet werden, sonst hätte sie die weichen Methoden wie Schlaftabletten vorgezogen. Ihr Konflikt war für sie nur durch Selbstauslöschung zu lösen. Sie war depressiv und zeit ihres Lebens isoliert, räumlich oder seelisch, weshalb ich gerne mehr über Rubins Lebenssituation erfahren hätte. Vielleicht hätten wir ihr helfen können. Doch sie war zu schnell. Sie hat uns alle überlistet.«
»Also war sie ein Opfer ihrer selbst.«
»Ein Opfer der Umstände, die sie zu diesem Selbst gemacht haben.«
»Und deshalb konnte sie den Mann nicht umbringen?«
Brock schüttelte leicht den Kopf. Er setzte die Brille wieder auf und zog den Ordner zu sich heran. »Sie hat diesen grauen haften Ritualmord im Tierpark nicht begangen. Aber sie wusste, wer es war.«
27
D ie Praxis ist wegen eines Todesfalles geschlossen. In dringenden Fällen wenden Sie sich bitte an die tierärztliche Gemeinschaftspraxis Dessau-Roßlau, Telefon …«
Kein Pfeifton, keine Möglichkeit, ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Jeremy wusste nicht, wo sie war und wohin sie zum Weinen gehen würde. Es war kurz nach achtzehn Uhr, er hatte früher Feierabend gemacht, und der kurze Blick, mit dem Brock ihn beim Abschied gestreift hatte, schien ihm wie das Einverständnis seines Planes: Ich fahre nach Dessau, ich suche nach ihr. Wir haben eine Verantwortung.
Er stieg aus, blieb auf der anderen Straßenseite stehen und betrachtete das schlichte Gebäude im Bauhaus-Stil, das an einer der ruhigen Seitenstraßen in der Nähe des Sieben-Säulen-Parks lag. Ein weißer Kubus auf grünem Gras. Einige Zierbüsche säumten den Weg zum Eingang und verbargen den Blick auf den hinteren, privateren Teil des Grundstücks.
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