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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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zurück.
    Inger Sandel, in Shorts und Trägerhemdchen, saß auf dem Bett.
    Elizabeth trat ohne Zögern an ihre Frisierkommode, setzte sich und begann, ihr Gesicht zu schminken. Es war eine langsame, heikle Prozedur. Ihre Haut war von Natur aus blaß, und es bedurfte mühevoller Arbeit, den gewünschten frischen, hellen Teint herbeizuzaubern.
    Als sie endlich zufrieden war, trafen sich die Blicke der Frauen im Spiegel. Elizabeth drehte sich langsam auf ihrem Schemel herum und fragte in beiläufigem Tonfall: »Bist du eigentlich aktive Lesbe, oder spannst du nur gern?«
    Inger sagte: »Ob ich praktizierende Lesbierin bin? Ja.«
    »Schon immer? ’tschuldige, das war blöd. Ich meine, wann hast du’s gemerkt? Als Mädchen schon oder erst später?«
    »Schon immer.«
    »Dann hast du’s nie mit ’nem Mann probiert? Nicht mal mit Arne?«
    Inger schenkte ihr ein seltenes Lächeln und sagte: »Natürlich mit Arne. Ein Mal. Er wollte. Und ich wollte mit ihm arbeiten. Es schien notwendig, und als es vom Tisch war, blieb es dabei. Und du?«
    »Nicht mit Arne, absolut nicht!«
    »Sonst jemand?«
    »Ein Tutor an meinem College. Ich dachte, ich seh mal zu, daß ich’s hinter mich bringe.«
    »Und?«
    »Ich hab’s hinter mich gebracht.«
    »Dann hattest du mit diesem Tutor weder vorher noch nachher eine Beziehung?«
    »Absolut nicht.«
    »Wie ich sehe, bist du dir ganz sicher. Aber was war mit ihm? Wollte er nicht mehr?«
    »Na ja, ich hab am nächsten Morgen ’nen Fünfer aufs Kopfkissen gelegt und bin abgehaun. Ich nehme an, er hat verstanden.«
    Dies war ein Moment, in dem sie zum erstenmal gemeinsam hätten lächeln können, doch er verging.
    »Noch weitere Fragen?« meinte Elizabeth.
    »Warum rasierst du deinen Busch?«
    »Um das da oben auszugleichen«, erwiderte Elizabeth und tätschelte ihre Glatze. »Das macht dich an, wenn du mich so siehst, stimmt’s?«
    »Es ist … ganz nett, ja.«
    »Nett?« Sie erhob sich, gähnte, streckte sich. »Tja, mach dir mal keine zu großen Hoffnungen, Herzchen.«
    Sie schlüpfte in ein Höschen und zog ein schwarzes T-Shirt über den Kopf, wobei sie darauf achtete, ihr Gesicht nicht zu berühren. Dann nahm sie die blonde Perücke vom Ständer, stülpte sie über den Kopf und musterte sich im Spiegel.
    »Ich habe mir keine Hoffnungen gemacht«, sagte Inger.
    »Das ist sowieso die beste Einstellung. Irgendwo ist immer Mitternacht, hat mein Vater immer gesagt. Wenn es also keine Hoffnungen waren, die dich hergeführt haben, wieso hockst du dann auf meinem Bett?«
    »Es sind die ›Kindertotenlieder‹. Ich bin derselben Meinung wie die anderen. Ich finde, du solltest sie nicht singen.«
    »Welche anderen?«
    »Arne. Der fette Polizist. Walter.«
    »Walter hat nichts gesagt.«
    »Wann sagt Walter schon mal was gegen dich? Aber ich kann sehen, wie er sich fühlt, wenn du sie singst.«
    »O ja. Toll, wie du das machst, während du auf die Tasten haust. Hast wohl hinten Augen im Kopf, wie?«
    Inger antwortete nicht, sondern saß nur reglos und mit gleichgültigem Gesichtsausdruck da, während sie Elizabeth unverwandt anstarrte, die einige unnötige Korrekturen an ihrer Perücke vornahm.
    »Also, was willst du damit sagen, Inger?« fragte sie schließlich. »Daß du dir dein Klavier untern Arm klemmst und in ’ner andren Kneipe spielst?«
    »Nein. Wir müssen alle unsere eigenen Entscheidungen treffen. Deine werde ich dir nicht abnehmen. Wenn du singen willst, dann spiele ich.«
    »Dann ist ja alles eitel Sahnekuchen, oder? Wie sieht’s aus? Gehn wir frühstücken?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie das Zimmer und lief die Treppe hinunter. In der Küche sah sie durch die geöffnete Hintertür Chloe mit einem Becher Kaffee auf der Veranda stehen. Das lange schmale Gartenstück zeigte deutliche Anzeichen der Dürre. Der Rasen war so rissig und vergilbt wie ein altes Ölgemälde.
    »Morgen«, rief Elizabeth und stellte den Wasserkocher an. »Hast du ins Bett gemacht, oder warum bist du so früh wach?«
    »Das wäre direkt eine Idee. Wenn wir alle auf den Rasen pinkeln, meinst du, es würde etwas nützen?« erwiderte Chloe. »Walter ist sehr früh aufgestanden, da bin ich wach geworden. Und ich bin hierher gegangen in der Hoffnung, vielleicht ein bißchen Tau zu sehen, aber selbst den gibt es nicht mehr.«
    »Vielleicht haben sie den verboten, wie das Rasensprengen. Pinkeln würd ich nicht versuchen, das ist wahrscheinlich auch verboten.«
    Chloe kam schmunzelnd in die Küche.

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