Das Dorf der verschwundenen Kinder
Zwischen ihnen würde niemals eine innige Mutter-Tochter-Beziehung bestehen, aber gelegentlich, wenn sie allein waren, erlaubte ihre gemeinsame Yorkshire-Herkunft eine derbe Verbundenheit, in der keine von beiden sich bedroht fühlte.
Ebenso häufig waren die Momente, in denen Chloe das Gefühl hatte, eine Außerirdische zu beherbergen.
»Ich hab mit Inger geredet. Sie findet, ich sollte den Mahler-Zyklus nicht singen. Was denkst du?« wollte Elizabeth plötzlich wissen.
Chloe nippte aus Verlegenheit an ihrer leeren Tasse und fragte sich, wie jemand so offen und gleichzeitig so undurchschaubar sein konnte.
»Seit wann interessiert dich, was ich denke?« gab sie zurück, um Zeit zu gewinnen.
Elizabeth warf sich eine Handvoll trockenes Müsli in den Mund und spülte es mit einem Schluck schwarzen Kaffee hinunter.
»Sie hat gesagt, daß Walter und Arne und dieser Fettbrocken von Polizist finden, daß ich’s nicht tun soll. Aber sie hat nix von dir gesagt. Also dachte ich, ich frag dich mal, ob dich die Lieder stören.«
»Wegen Mary, meinst du? Der Teil meiner Seele, der dafür zuständig ist, kann schon lange nicht mehr von so etwas Belanglosem wie Liedern beeinträchtigt werden«, sagte Chloe.
»Das hab ich mir auch gedacht«, meinte Elizabeth. »Ach, übrigens, danke.«
»Wofür?«
»Daß du mich großgezogen hast.«
Chloe ließ in gespieltem Erstaunen, das nicht vollkommen gespielt war, den Unterkiefer fallen. Ehe sie etwas erwidern konnte, wurde die Tür geöffnet, und Inger kam herein. Elizabeth trank ihren Kaffee aus, schnappte sich eine Handvoll frischer Trauben, rief: »Bis dann« und ging.
Inger fragte: »Ißt sie genug?«
»Für eine Sängerin, meinst du?«
»Für eine Frau. Heute morgen habe ich sie nackt gesehen. Sie hat kräftige Knochen, deshalb ist mir nie aufgefallen, wie wenig Fleisch daran hängt. Sie war einmal magersüchtig, oder?«
Noch so eine von der Sorte mit undurchschaubarer Offenheit, dachte Chloe bitter. Die einzig mögliche Antwort war entweder Schweigen oder gleichermaßen Offenheit.
Sie setzte sich und sagte: »Als Betsy eine Zeitlang bei uns war – damals hieß sie noch Betsy –, wurde bei ihr Magersucht festgestellt. Sie wurde behandelt, sowohl medizinisch als auch psychologisch. Schließlich wurde sie wieder gesund.«
Bitte sehr. So einfach war es, ganz offen zu sein und trotzdem nichts preiszugeben!
»Dann hat sie also ein Phase durchgemacht wie viele Kinder heutzutage, ihr habt es gemerkt und behandeln lassen. Warum fühlst du dich dann so schuldig?«
Nichts preiszugeben! Wem wollte sie etwas vormachen? Nicht dieser Frau mit den scharfen Ohren, das war sicher. Einmal hatte sie Arne nach ihr ausgefragt. Sie war ein wenig eifersüchtig gewesen, damals, als der junge Sänger ihren Körper mit Empfindungen überrascht hatte, die sie nach ihren Erfahrungen mit Walter nie für möglich gehalten hatte.
Arne hatte gelacht und gesagt: »Inger ist lesbisch, also brauchst du nicht eifersüchtig zu sein, mein Herz. Aber fühl dich jetzt bloß nicht überlegen, wie es die meisten Frauen Lesben gegenüber tun – auch wenn sie es abstreiten –, weil sie meinen, Lesben stellen keine Bedrohung dar. Inger hört mehr in der Stille zwischen den Noten, als die meisten von uns in der Musik an sich hören.«
Vielleicht also hatte sie Dinge von Arne gehört, die nicht hätten ausgesprochen werden dürfen, oder sie hatte aufmerksam in die Stille zwischen seinen Worten gelauscht.
Ironischerweise war es die Krise mit Betsy gewesen, die Arne wieder in ihr Bett zurückbrachte. Nach Marys Verschwinden hatte sie das Verhältnis mit ihm beendet – aus Gründen, die so unlogisch waren, daß man sie nicht als solche bezeichnen konnte, die aber etwas damit zu tun hatten, daß sie sich für ihre Untreue bestraft fühlte und alles ablehnte, was ihren Schmerz auch nur im mindesten lindern könnte.
Doch die Krise mit Betsy war anders gewesen. Da hatte sie vor sich selbst fliehen wollen und es in den Armen des Sängers geschafft.
Sie konnte sich jetzt nicht mehr genau erinnern, wieviel von ihren Gefühlen sie ihm gegenüber offengelegt hatte. Aber wenn er darüber mit Inger gesprochen hatte, war selbst ein bißchen wohl ausreichend gewesen.
Dann soll sie es jetzt eben aus erster Hand erfahren, warum nicht? Das Herz eines Menschen kann nur ein bestimmtes Maß an Leid ertragen.
Sie sagte: »Ich wollte nicht, daß Betsy zu uns kommt, weißt du. Wir waren in den Süden gezogen, ich hatte
Weitere Kostenlose Bücher