Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
Vom Netzwerk:
meine gesamte Willenskraft darauf verwandt, die Tür hinter Dendale und der Vergangenheit zu schließen, und nun war da dieses Kind, und alles drohte wieder aufzubrechen. Ich hatte sie auch nie richtig gemocht, sie war ein recht häßliches Kind, dunkelhaarig und dick und auch irgendwie seltsam. Man bekam so ein komisches Gefühl, und dann drehte man sich um, und Betsy stand da und beobachtete einen und wartete, daß man Notiz von ihr nahm, um dann zu fragen, ob Mary zum Spielen käme. Wir führten das auf ihre Mutter zurück, Lizzie, meine Cousine, die immer sehr nervös gewesen war und nach Betsys Geburt Depressionen bekommen hatte und sie nie wieder richtig loswurde. Es war kaum jemand wirklich überrascht, glaube ich, als sie eine Überdosis nahm. Nach der Untersuchung sagten sie, es hätte auch versehentlich passiert sein können, aber ich glaube, sie wollten nur nett sein. Bei Jack, also Betsys Vater, war es ein viel größerer Schock. Er war ein ganz bodenständiger Yorkshire-Bauer, zäh wie Leder, der würde alles durchstehen, dachten die meisten. Als er dann ins Wasser ging …«
    »Und da gab es keinen Zweifel?« wollte Inger wissen.
    »Nicht viele Menschen gehen mit den Taschen voller Steine schwimmen«, erwiderte Chloe. »Da war nun Betsy. Elfeinhalb Jahre. Eine Waise. Ohne jede Verwandtschaft – außer mir.«
    »Also hast du sie aufgenommen?«
    Chloe schüttelte den Kopf.
    »Ich schrie und heulte und vergoß literweise Tränen jedesmal, wenn das Thema zur Sprache kam, daß sie bei uns leben könnte. Walter hat mich schließlich überzeugt … nein, nicht überzeugt … das würde bedeuten, er hätte an meine Vernunft appelliert … er hat mich einfach bearbeitet, so wie die Sonne auch durch eine dicke Schicht Wolken immer noch durchscheinen kann. Tja, ich ließ vor mir die Wolken aufziehen, aber Walter war immer da oben und kam durch. Und am Ende hat er gewonnen.«
    »Findest du, daß er recht hatte?«
    »Natürlich hatte er recht. Das Kind brauchte ein Zuhause. Und als sie kam, war es viel einfacher, als ich gedacht hatte. Sie wollte die Tür, die ich so mühsam geschlossen hatte, überhaupt nicht aufbrechen, im Gegenteil. Sie hatte keinerlei Bedürfnis, über ihre Eltern oder Dendale oder irgend etwas aus der Vergangenheit zu sprechen. Tatsächlich hat sie überhaupt sehr wenig gesprochen und mit der Zeit noch weniger, und ich dachte (falls ich überhaupt etwas gedacht habe), wie gut, sie hat auch die Tür hinter sich zugemacht. Und mir schien, daß wir in dieser unproblematischen Stille sehr gut miteinander leben könnten.«
    »Sie war ein Kind«, sagte Inger in neutralem Ton, der dennoch vorwurfsvoll klang.
    »Ich weiß. Ich hätte mit ihr reden sollen … aber ich habe es nicht getan. Sie schien in Ordnung. Na gut, sie hat ein bißchen abgenommen, aber das hat mir sogar gefallen. Ich sagte ihr sogar hin und wieder, sie solle nicht so viele Süßigkeiten und Kekse essen, und ich dachte, sie verliert eben ihren Babyspeck.«
    »Wie alt war sie dann, als du gemerkt hast, daß es ein Problem gab?«
    »Gemerkt?« Chloe lachte bitter. »Ich habe es überhaupt nicht gemerkt. Eines Abends kamen diese fürchterlichen Schreie von oben. Ich rannte hinauf und fand Betsy im Badezimmer. Ihr Kopf … O Gott, was für ein schrecklicher Anblick! Sie hatte sich die Haare färben wollen und eine gefährlich starke Menge Bleichpulver angerührt … Ich zerrte sie unter die Dusche und schrie, daß sie die Augen zukneifen solle, und hielt sie viel länger drunter, als nötig war, weil ich in dem Moment das Gefühl hatte, das Richtige zu tun, und nicht darüber nachdenken mußte, was ich falsch gemacht hatte. Aber schließlich habe ich sie dann ins Krankenhaus gebracht. Sie wurde untersucht, die Ärzte sagten, sie hätte ihre Kopfhaut teilweise so stark geschädigt, daß ihre Haare womöglich ganz ausfallen und nur büschelweise nachwachsen würden, aber das sei nicht der Hauptgrund für ihre Sorge, sondern ihre Magersucht, und sie wollten wissen, welche Behandlung sie bekäme.«
    »Und du hattest keine Ahnung davon?«
    »Ich weiß nicht. Vielleicht doch, ganz tief drin, aber ich wollte mir keine Sorgen machen müssen. Walter war zu der Zeit lange auf Geschäftsreise gewesen, einige Monate schon. Vielleicht hätte er etwas gemerkt. Er hat ihr schon immer nähergestanden als ich.«
    »Davon merkt man jetzt aber nichts mehr«, meinte Inger.
    »Nicht?« Chloe lächelte in sich hinein. Vielleicht überhörte Inger bei

Weitere Kostenlose Bücher