Das Dorf der verschwundenen Kinder
der Superintendent hat bei Inspector Headingley einen Bericht hinterlassen, bevor er ins Tal fuhr.«
Sie gab die Ergebnisse von Dalziels Zeugenbefragung in der Bibliothek weiter, wobei sie Pascoe mit der Menge an Details überraschte.
»Sie müssen bei George Headingley einen guten Stand haben«, meinte er.
Der Inspector gehörte noch zur alten Schule und war überzeugt, daß es Constables nur verwirrte, wenn man ihnen zuviel erzählte, und daß man weiblichen Constables gegenüber mit jeder Information, außer der Anzahl von Zuckerstückchen, die man in seinen Kaffee nahm, seine Zeit vergeudete.
»Ich habe ihm gesagt, daß ich auf Ihren Befehl hin frage, Sir, und daß Sie jede Einzelheit hören wollten. Er läßt übrigens herzliche Grüße ausrichten an … Sie wissen schon …«
»Ja, ich weiß«, sagte Pascoe. »Dieses Buch … ›Das Ende von Dendale‹. Ellie hat irgendwo ein Exemplar rumliegen. Sie steht auf Lokalgeschichte und so was. Aber warum wollte Benny es sehen? Und wo zu braucht er Fotokopien von den Landkarten? Er müßte das Tal doch eigentlich kennen wie seine Westentasche.«
»Das war vor fünfzehn Jahren, bevor das Tal geflutet wurde«, erwiderte Novello.
»Durch die Dürre sieht es inzwischen fast wieder aus wie früher«, wand Pascoe ein.
»Außer, daß die ganzen Gebäude plattgewalzt wurden«, sagte Novello, ließ den Wagen an und fuhr wieder los.
»Tja, wohl deswegen«, sagte Pascoe. »Sagen Sie, diese Beweistüten …«
Sie hatte die Tüten auf seinem Schoß entdeckt und seine Rüge bereits erwartet.
»Ja, ich weiß, Sir«, sagte sie. »Die sind zum Wegwerfen, nicht fürs Lager. Ich hab die Sachen aus dem Abfalleimer oben am Aussichtspunkt an der Straße zum Highcross Moor gefischt, als ich noch an Entführung dachte. Das Labor hat nichts gefunden, was nicht weiter verwunderlich ist, wenn das Mädchen im Tal gefunden wurde. Ich werde sie in den nächsten Mülleimer werfen, den ich sehe.«
»Gut«, sagte er.
Den Rest der Fahrt über hüllte er sich in Schweigen. Das war nicht unbedingt ihre beste Idee gewesen, dachte Shirley. Aber was hatte sie erwartet? Letztes Mal hatte er ihr helfen können, weil er vor seiner familiären Krise vermutlich schon ein paar Schritte vorausgedacht hatte. Aber seither, wie er selbst sagte, stand der Dacre-Fall sehr weit unten auf seiner Prioritätenliste.
Als sie sein Haus erreichten, stieg er aus, die Plastiktüten noch immer in der Hand.
»Sir«, sagte Novello und zeigte darauf.
»Was? Ach ja. Ich werfe sie in unseren Mülleimer, ja? Hören Sie, kommen Sie doch für einen Moment mit rein.«
Sie folgte ihm ins Haus. Er eilte sofort nach oben, und sie überlegte, ob das wohl als Aufforderung gemeint war, ihm zu folgen. Nicht, daß ihr wichtig gewesen wäre, was gemeint war. Hier unten an der offenen Tür war ihr Platz. Pascoe war zwar weder verbal noch körperlich ein Grapscher, aber unter Streß verhielten Männer sich schon mal seltsam, und von einem beliebten altgedienten Polizisten mit todkranker Tochter angemacht zu werden war für die Karriere einer ehrgeizigen Polizistin nicht gerade förderlich.
Kurze Zeit später kam er mit einem Buch in der Hand zurück.
»Da ist es. Ich wußte doch, daß wir ein Exemplar haben. ›Das Ende von Dendale‹. Wollen wir doch mal sehen, was Lightfoot so interessiert haben könnte.«
»Es waren die Karten, Sir. Das wissen wir«, entgegnete sie so geduldig wie eine Grundschullehrerin.
Er bemerkte ihren Tonfall, lächelte und sagte: »Danke, Schwester, aber das war beim ersten Mal. Er hat Fotokopien machen lassen. Also, was hat ihn veranlaßt, einen zweiten Blick in das Buch zu werfen?«
Er ging ins Wohnzimmer, setzte sich hin und fing an, das Buch durchzublättern. Novello stellte sich hinter ihn und sah ihm über die Schulter.
Ihm fiel ein, daß er das Buch vor langer Zeit schon einmal durchgesehen hatte, aber abgesehen von der ersten Landschaftsaufnahme, die Mrs. Shimmings ihm gezeigt hatte, erinnerte er sich an nichts mehr. Was hätte ihm das Buch vorher auch sagen sollen? Nun aber hatte er das Tal gesehen und was daraus geworden war, hatte einige ehemalige Bewohner gesehen und was aus ihnen geworden war, und die Bilder erweckten die Vergangenheit auf eine Art und Weise zum Leben, wie seine Vorstellungskraft es ohne diese Hilfen niemals geschafft hätte.
Hier waren alle Gebäude abgebildet, die er nur als Steinhaufen kannte, kaum zu unterscheiden von dem steinigen Untergrund, auf dem sie
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