Das Dorf der verschwundenen Kinder
lakonisch.
»Sehr wahrscheinlich. Manche Leute haben eben sehr viele Talente, und darum bleiben für die anderen so wenig übrig«, entgegnete Ellie deprimiert.
»Irgendwann ist es soweit, Liebling. Wirklich. Du hast mehr schriftstellerisches Talent im kleinen Finger als all diese Londoner Arschlöcher, die sich in den Sonntagsrezensionen gegenseitig in selbigen hineinkriechen«, erklärte er loyal und nahm sie in den Arm.
Sie hielten einander fest, als müßte er nach einem allzu kurzen Urlaub wieder an die Front.
Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr davon.
Drei
W ie oft?« fragte Pater Kerrigan.
»Fünfmal.«
»Gütiger Gott! Immer mit demselben Burschen, ja?«
»Ja, Vater«, antwortete Detective Constable Shirley Novello indigniert.
»Und auch am heiligen Sonntag?«
»Macht es das schlimmer?«
»Es macht es nicht besser. Fünfmal. Ich gebe dem heißen Wetter die Schuld. Ist es jemand aus meiner Gemeinde? Nein, sag’s nicht. Ich werde ihn schon an seinem gegrämten Gang erkennen. Ist das der Grund, weshalb ich dich gestern nicht im Gottesdienst gesehen habe? Warst du zu sehr damit beschäftigt, Unzucht zu treiben?«
»Nein, Vater. Ich habe es Ihnen gesagt. Wir haben gestern einen Ausflug ans Meer gemacht, und da ist es einfach irgendwie passiert.«
»Nein, mein Kind. Es kann
ein
Mal einfach irgendwie passieren, aber fünf Male bedürfen schon einer gewissen Inbrunst.«
Es ist nicht leicht, dachte Novello, als sie etwas später die Kirche verließ, gleichzeitig eine moderne Frau, eine Katholikin und eine aufstrebende Polizistin zu sein. Die Rollen kamen sich ins Gehege. Für die emanzipierte Frau bedeutete guter Sex das Ausleben ihrer befreiten Sexualität, für den Heiligen Vater bedeutete es die Sünde der Unzucht. Und in ihrem Job war es hin und wieder erforderlich, sowohl die Emanzipation als auch die Heiligkeit vor den Kopf zu stoßen.
Sie kam fünf Minuten zu spät in die Einsatzzentrale in Danby. Keine Spur von Dalziel (Gott sei zumindest hierfür gedankt) oder Pascoe. Aber Wield war da.
»’Tschuldigung, Chef«, sagte sie. »War zur Beichte.«
Eine Lüge erschien unter den gegebenen Umständen irgendwie unpassend.
»Ich hoffe, Sie haben es auf Band«, sagte Wield.
War das ein Witz? Sie tippte auf ja und lächelte.
»Sie waren gestern nicht hier? Ich auch nicht. Machen Sie sich schnellstens mit dem Fall vertraut, und dann möchte ich, daß Sie diese drei Aussagen über verdächtige Fahrzeuge überprüfen.«
»Ist Dalziel in der Nähe?«
»Der ist mit Inspector Burroughs und der Suchmannschaft oben am Berg.«
»Und Mr. Pascoe?«
»Wird gleich kommen. Sieht zu, daß alles läuft.«
Eine Ausrede fürs Zuspätkommen? Die zwei gaben einander immer Rückendeckung.
Der Gedanke stand ihr wohl auf der Stirn geschrieben, denn Wield sagte: »Aber vielleicht ist er ja auch bei der Beichte. Je älter man wird, desto länger dauert sie, sagt man ja.«
Wieder ein Witz? Er war heute in seltsamer Stimmung. Novello suchte sich einen freien Computer und ging an die Arbeit.
Drei Fahrzeuge. In der ersten Phase eines solchen Falles, wenn man großflächig ausschwärmte – mit Geländesuchmannschaften, Anwohnerbefragungen, Bürgerappellen in den Medien usw. usw. –, erstickte man bald an einem Wust an Informationen. Deshalb war der zeitaufwendigste Teil einer Untersuchung das Sortieren (so Pascoe). Und das war nicht einfach. Bis sie diese drei Aussagen überprüft hätte, würden vermutlich noch etliche andere gesammelt werden. Sonntag war ein schlechter Tag für Zeugenaussagen. Die Leute machten Ausflüge und kamen erst spät zurück. In der gestrigen Anwohnerbefragung waren vermutlich große Lücken. Aber das war nicht ihr Problem. Noch nicht.
Sie steckte die Punkte der gesichteten Fahrzeuge auf der Landkarte ab. Der nächstliegende, bei dem das Fahrzeug allerdings nicht gesehen sondern gehört worden war, befand sich am Leichenpfad. Jemand hatte eine Notiz hinzugefügt: »Parkspuren zweihundert Yards bergaufwärts, Vierradantrieb?« Es hatte wohl nicht viel Sinn, einer halb blinden alten Dame nachzustellen. Andererseits … Sie sah auf die Uhr, stand auf und eilte aus dem Raum. Dabei pfiff sie die Melodie eines Kirchenlieds, die Wield zu der Überlegung verleitete, ob zuviel Religion bei der Ausübung polizeilicher Pflichten nicht doch hinderlich sein könnte.
Das Kirchenlied hieß »Er weckt mich alle Morgen«, wurde in diesem Fall jedoch aus rein weltlichen Gründen gepfiffen. Novello
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