Das Dorf der verschwundenen Kinder
ihre Kinder hätten sich hinten auf dem Rücksitz gezankt, weil sie nicht zu ihrer Großmutter wollten, was der Zweck der Fahrt gewesen war.
Novello hatte auf dem Rückweg vom Leichenpfad die ersten Kinder auf ihrem Weg zur Schule gesehen. Inzwischen war es eine lautstarke Meute geworden. Wegen der ständigen An- und Abfahrt von Polizeifahrzeugen war eine Absperrung errichtet worden, um die niedrige Grenzmauer zwischen dem Schulhof und der Auffahrt zur Gemeindehalle zu verstärken, und nun drängten sich die naturgemäß neugierigen Kinder dicht davor. Auch viele Erwachsene waren zu sehen. Nach den gestrigen Nachrichten ergriffen die Eltern, die ihre Kinder normalerweise nur bis zum Schulgebäude begleiteten oder sogar allein losziehen ließen, heute besondere Vorsichtsmaßnahmen.
Als Novello die Einsatzzentrale verließ, marschierten gerade einige Lehrerinnen energisch an der Absperrung entlang und riefen die Kinder auf, ins Schulgebäude zu gehen. Novello wandte sich an eine der Lehrerinnen und zeigte ihren Dienstausweis.
»Ich bin Dora Shimmings, die Schulleiterin«, sagte die Frau. »Hören Sie, ich habe gestern mit Mr. Pascoe vereinbart, daß eine Befragung von Lorraines Klasse erst dann stattfindet, wenn der Schultag auf einigermaßen normalem Wege in Gang gekommen ist.«
Sie sprach mit verhaltener Autorität, so daß Novello froh war, ihre Pläne nicht durchkreuzen zu müssen.
»Darum geht es nicht«, versicherte sie ruhig. »Ich wollte nur wissen, ob Joy Kendrick die Mutter einer Ihrer Schüler ist.«
»O ja. Ihre drei Kinder sind alle bei uns. Aber keines in Lorraines Klasse.«
»Wie alt sind sie?«
»Die Zwillinge sind sechs, und Simon ist acht. Da drüben kommen sie.«
Novello drehte sich um. Eine gestreßt wirkende Frau mit offenem blonden Haar, das zwar genauso schwungvoll, aber keineswegs so glänzend um ihre Schultern schwang wie in einer Shampoo-Werbung, dirigierte drei Kinder durch das Schultor – zwei Mädchen, die ganz im Gegensatz zum allgemeinen Vorurteil geschwisterlicher Liebe und Verbundenheit sich nur darin einig schienen, daß jede die andere auf Teufel komm raus malträtieren wollte, und ein etwas älterer Junge, Simon, der so gelangweilt und reserviert dreinblickte, wie das nur ein Achtjähriger mit Zwillingsschwestern konnte.
»Ich würde sie gern sprechen. Es dauert nur ein paar Sekunden«, versprach Novello.
Nachdem sie einander vorgestellt worden waren, sagte Novello: »Mrs. Kendrick, als Sie gestern mit dem Polizeibeamten an Ihrer Haustür gesprochen haben, hat er da auch die Kinder befragt?«
»Nein, die waren ja nicht da. Ich hab sie erst um sieben wieder abgeholt.«
»Natürlich. Simon, deine Mum sagt, daß da ein weißes Auto am Ligg Common geparkt hat, als ihr gestern vorbeigefahren seid. Du hast es nicht zufällig gesehen, oder?«
»Klar«, meinte er. Die Einsilbigkeit beruhte weder auf Desinteresse noch schlechter Erziehung. Novello erinnerte sich, daß Kinder dazu neigten, Fragen genau so zu beantworten, wie sie gestellt wurden, und nicht wie Erwachsene, die sofort die Hintergründe berücksichtigten.
»Was war das denn für ein Auto?«
»Ein Saab 900 Cabrio.«
»Hast du das Kennzeichen gesehen?«
»Nein, aber es war das neueste Modell.«
Das war’s. Sie dankte dem Jungen und seiner Mutter, die in der Zwischenzeit die Zwillinge auseinandergehalten hatte wie zwei wutschnaubende Kontrahenten in einem Titelkampf und sie nun in Richtung Schuleingang zerrte.
»Das war clever«, meinte Mrs. Shimmings.
»Das war Glück«, entgegnete Novello. »Ich hätte auch einen Jungen erwischen können, der sich nur für Fußball interessiert. Warum hat Mrs. Kendrick die Kinder eigentlich gestern bei der Großmutter abgeliefert? Hat nichts mit dem Fall zu tun, ich bin nur neugierig.«
»Ihr Freund«, antwortete Mrs. Shimmings lakonisch. »Mr. Kendrick ist letztes Jahr abgehauen, und Joy hat einen neuen Freund, aber Simon haßt ihn. Und man kann schließlich keinen guten Sex haben, wenn vor der Schlafzimmertür ein Protestmarsch stattfindet, oder?«
»Hab’s nie probiert«, meinte Novello schmunzelnd.
Sie ging in die Zentrale zurück. Immer noch kein Zeichen von Wield. Und noch keine Antwort von der Hauptstelle auf ihre Anfrage wegen des Discovery. Sie sollte irgend jemandem berichten, was sie herausgefunden hatte, konnte aber niemanden entdecken, dem sie so weit traute, daß er die Lorbeeren nicht selbst einheimsen würde. Viele ihrer männlichen Kollegen, selbst
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