Das Dornenhaus
war wie eine Insel in dem jetzt dunklen Zimmer. Sie war ganz in ihre Geschichte über den alten Soldaten vertieft gewesen und hatte das Einsetzen der Dunkelheit und das Aufziehen des Sturms nicht bemerkt. Rasch sah sie auf die Uhr. Es war nach sieben. Sie lief nach unten, fragte sich, wo ihre Eltern blieben. Der Sturm musste sie aufgehalten haben. Als es wieder donnerte, hoffte sie, dass sie nicht mehr auf dem Fluss waren.
Die Fenster im Haus ratterten im Wind, und der Regen trommelte aufs Dach. Odette fröstelte und ging, nachdem sie das Feuer im Wohnzimmer angemacht hatte, in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten.
Eine Stunde später verwandelte sich ihre Besorgnis in Angst. »Was ist, wenn …? Was ist, wenn …?«, schoss es ihr immer wieder durch den Kopf. Sollte sie loslaufen, und wenn ja, wohin? Wen könnte sie anrufen? Sie hatte Angst, die Polizei anzurufen und sich zum Narren zu machen. Wie schlimm war der Sturm? Wieder ging sie zum Fenster und sah hinaus in die Dunkelheit. Der Regen rann in heftigen kleinen Bächen an der Scheibe hinunter, und der Garten wurde kurz von einem zuckenden Blitz erhellt.
»Oje … oje«, hörte sie sich die Litanei ihrer Mutter wiederholen, wenn sie in Aufregung war. »Oje …«
Sie hob den Telefonhörer auf. Kein vertrautes Summen. Vielleicht war das eine gute Nachricht. Die Telefone funktionierten nicht, die Leitungen mussten unterbrochen sein. Das hieß, ihre Eltern konnten sie nicht anrufen. Sie hatten irgendwo Unterschlupf gefunden und warteten darauf, dass der Sturm nachließ.
Um neun Uhr lief sie ruhelos durchs Haus und rang die Hände. Tränen standen ihr in den Augen, Klauenhände zerrten ihr an Kehle und Brust und zwangen sie, in keuchenden, rasselnden Stößen zu atmen. Der Sturm war auf dem Höhepunkt. Die Lichter flackerten, und das Haus wurde dunkel. Schluchzend suchte Odette in der Küche nach einer Taschenlampe, lief in ihr Zimmer, zog sich einen Regenmantel an und rannte aus dem Haus.
Sie rannte durch den strömenden Regen, der Wind hatte ihr die Kapuze vom Kopf gerissen. Der Regen klatschte ihr die Haare an den Kopf, lief ihr kalt in den Nacken und ließ sie frösteln. – Odette rannte weiter durch die dunklen Straßen, vorbei an schwach erleuchteten Häusern mit hohlen Augen, Umrissen in der Dunkelheit, die sich gegen den noch dunkleren Himmel abhoben. Der bleistiftdünne Strahl der Taschenlampe reichte kaum einen Schritt weit, aber es war ihr egal, ob sie in Pfützen oder überfließende Rinnsteine trat.
Sie wusste, dass sie sich dem Bootsschuppen näherte. Über dem Heulen des Windes konnte sie das Rasseln des Segelwerks auf den schwankenden Yachten hören, das Quietschen der Ankerketten und das Flattern zerrissener Leinwand, die der Wind von den Booten gerissen hatte. Durch das regennasse Fenster des Bootshausbüros war das Licht einer Lampe zu sehen. Verängstigt klopfte Odette an die Tür.
Ein Mann in Ölzeug öffnete ihr die Tür und trat rasch zur Seite, um das durchnässte Mädchen einzulassen. »Bei so einem Wetter solltest du nicht draußen sein. Willst du nach einem Boot sehen?«
Ein zweiter Mann, der das Emblem der Küstenwache auf dem Pullover trug, lächelte sie an. Er stand mit dem Rücken zu einem Kerosinofen und trank aus einem Teebecher.
Odette hatte Mühe, die Worte herauszubringen. »Nein, ich mache mir Sorgen um meine Mum und meinen Dad. Sie sind heute Nachmittag zum Angeln gefahren und noch nicht nach Hause gekommen.«
»Vielleicht haben sie irgendwo Schutz gesucht. Was haben sie für ein Boot?«
»Nur ein Dinghi. Gerade groß genug für zwei Leute.«
Die beiden tauschten einen raschen Blick aus.
»Erzähl uns, wohin sie wollten, wohin sie vielleicht gefahren sind. Haben sie Freunde hier in der Gegend?«
Odette schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Sie kennen nicht allzu viele Leute. Sie sagten, sie wären bei Sonnenuntergang zurück. Dad sagte aber auch, sie würden vielleicht länger bleiben, wenn die Fische beißen.«
»Nicht bei diesem Wetter«, sagte der Mann von der Küstenwache.
»Wie heißt du, junge Dame, und wo wohnst du?«
Die beiden Männer wurden geschäftig, der eine zog seine Regenjacke an, der andere setzte sich einen Südwester auf.
»Wie bist du hierher gekommen?«
»Ich bin gelaufen.«
»Ist jemand bei dir zu Hause?«
Odette schüttelte den Kopf.
»Dann warte hier, Kleine. Da drüben ist Tee in der Kanne. Mach dir nicht zu große Sorgen.«
Die Männer eilten in die Nacht hinaus
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