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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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Fluss hinunter zu ihrem Lieblingsangelplatz.
    Odette lief hinauf in ihr Zimmer, zog die weiße Bluse und die Jacke ihrer Schuluniform aus und schlüpfte in eine bequeme Hose und ein Oberteil. Sie prüfte, ob genug Luft in den Reifen ihres alten Fahrrads war, steckte sich das Haar hinter die Ohren und radelte los. Sie blieb auf dem Bürgersteig, weil sie der Verkehr auf der Hauptstraße von Kincaid etwas nervös machte, war aber schon Minuten später auf der breiten, von Bäumen gesäumten Allee, die zu der Abzweigung nach Zanana führte.
    Das große Eisentor war mit einer rostigen Kette und einem Vorhängeschloss gesichert. Odette schaute durch das kunstvoll geschmiedete Gitter in den Park, wo die mit blassrosa Flusskieseln bestreute Auffahrt bald hinter Buchsbaum und Palmen verschwand. Dann schob sie das Fahrrad langsam an dem eisernen Zaun entlang, der im Gebüsch kaum noch zu sehen war. Aber er wies keine Lücke auf. Bis hinab zum Fluss, fast eine Meile lang, begrenzte der Zaun das Grundstück. Seufzend fuhr Odette zurück, um es auf der anderen Seite des Tores zu versuchen.
    Als sie sich wieder dem Eingang näherte, stellte sie erstaunt fest, dass dort zwei Leute standen und in den Park schauten. Sie bremste, stieg vom Fahrrad und beobachtete sie scheu.
    Eine junge Frau stand neben einem alten Mann, der sich auf Krücken stützte, weil sein einer Fuß in Gips steckte. Er schien sehnsüchtig auf das Grundstück zu schauen. Sein Haar war grau und ragte buschig unter einer Kappe hervor.
    Die junge Frau drehte sich um und lächelte Odette an. »Hallo. Wir schauen nur. Sind die Gärten nicht schön?«
    »Nicht halb so schön wie die weiter drinnen«, sagte der Mann. »Die Grotte und der Rosengarten, das war schon was.«
    »Und der versunkene Garten, Wally. Sie haben immer gesagt, dass Sie den besonders gern hatten.«
    »Sie kennen den Garten? Sie waren auf dem Grundstück?«, fragte Odette.
    »O nein, ich nicht. Aber Wally hier … er sagt, er hätte da gelebt.« Die junge Frau zwinkerte Odette zu und deutete an, dass sie nur einer Laune des alten Mannes nachgab.
    Er drehte sich um und sah Odette zum ersten Mal an. »Hallo, Mädchen. Wie heißt du?«
    »Odette. Haben Sie wirklich in Zanana gelebt?« Der Mann sah gar nicht so alt aus, trotz seines wettergegerbten Gesichts.
    »Zanana. Richtig. Ich hab versucht, mich an den Namen zu erinnern. Er stand über der Eingangstür. Prächtiges Haus … zu schade, dass es geschlossen wurde.«
    Die junge Frau nickte. »Offenbar ist es schon seit Jahren geschlossen. Wally lebt jetzt drüben im Veteranenheim in Bondi. Ich bin dort als Pflegehelferin angestellt. Er hat mich seit Monaten gedrängt, mit ihm hierher zu fahren. Ich hätte mir denken können, dass wir nicht reinkommen. Also weiß ich immer noch nicht, ob es all das gibt, wovon Sie mir erzählt haben«, schalt sie ihn gutmütig.
    »Oh, aber es gibt sie tatsächlich«, sagte Odette. »Die Grotte und den versunkenen Garten …«
    »Da war eine Sonnenuhr …«, warf der alte Mann ein.
    »Ja … und das Gewächshaus mit all dem purpurfarbenen Glas …«
    »Ach ja …« Er schloss die Augen, und ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht.
    Die junge Frau sah Odette erstaunt an. »Du bist da drin gewesen? Und es sieht tatsächlich so aus?«
    »Noch viel besser. Wie ein Palast aus dem Märchenbuch.«
    »Na so was, Wally, und ich dachte immer, Sie hätten eine übermäßig lebhafte Phantasie.«
    Wally winkte Odette näher und beugte sich zu ihr hinab. »Ich flüstere dir meinen Lieblingsplatz ins Ohr. Eigentlich durfte ich da nicht hingehen, aber ich hab’s trotzdem getan.«
    Odette hielt ihr Ohr nahe an das Gesicht des Mannes und wusste schon, was kommen würde.
    »Das indische Haus«, zischte er.
    »Meiner auch«, flüsterte sie zurück. »Ich durfte da auch nicht hin. Aber ich hab mich einfach reingeschlichen.«
    »Tja, heute kommen wir jedenfalls nicht auf das Grundstück. Meine Füße bringen mich um. Warum setzen wir uns nicht da drüben auf die Bank, damit Sie Ihr schlimmes Bein entlasten können?«, meinte die junge Frau und ging zu einer Bank in dem kleinen Park gegenüber dem Tor.
    Odette lehnte ihr Fahrrad an die Bank und setzte sich neben den Mann. »Wann haben Sie dort gelebt? Gehörten Sie zu der Familie, die es gebaut hat?«
    »Zu der Familie … ja, ich gehörte dazu …« Seine Stimme verlor sich einen Augenblick. »Aber dann ist vieles passiert, die Zeiten änderten sich, und danach, tja, danach war

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