Das Dornenhaus
Kopf gesenkt. Ihr Haar war gebürstet und mit einem Band zusammengebunden, ihre abgetragenen Schuhe waren frisch geputzt, und sie trug ein verblichenes Kleid mit Blumenmuster, vererbt, aber sauber und gebügelt. Zum ersten Mal sah Catherine sie nicht in der Kittelschürze, die sonst alle Kinder im Waisenhaus trugen.
»Hallo, Mary«, sagte Catherine sanft. »Bist du traurig, dass du all deine Freunde hier verlassen musst?«
Der kleine Lockenkopf wurde energisch geschüttelt.
»Sprich, wenn du angeredet wirst, Mary, du brauchst nicht schüchtern zu sein«, forderte sie die Heimleiterin auf.
»Nein«, ertönte ein kleines Stimmchen.
»Bist du froh, dass du zu uns nach Zanana kommst?«
Jetzt nickte der Kopf eifrig, gefolgt von einem inbrünstigen »Ja«.
»Warum siehst du denn dann so traurig aus, liebes Kind?« Catherine zog das Mädchen auf ihren Schoß.
»Sie lassen mich meine Schürzen nicht mitnehmen, und ich hab nur dieses eine Kleid«, murmelte Mary und verbarg ihren Kopf an Catherines Schulter.
»O meine Süße.« Catherine drückte sie fest an sich. Tränen rannen Mary aus den Augen und benässten Catherines Kleid.
Die Heimleiterin und Robert tauschten ein mitfühlendes Lächeln aus.
Robert beugte sich vor und hob Marys Kinn mit dem Finger an, so dass das kleine Mädchen ihm ins Gesicht sehen musste. »Das ist ein sehr schönes Kleid, Mary, aber vielleicht hättest du gerne noch ein paar neue dazu. Wir werden jetzt für dich sorgen, und du bekommst dein eigenes Zimmer und alles, was du brauchst.«
»Ein eigenes Zimmer?« Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Ganz für mich allein?«
»Es liegt direkt neben unseren«, beruhigte Catherine sie.
Mary glitt von ihrem Schoß, ging zu Robert und umarmte ihn rasch, ein breites Lächeln erhellte ihr Gesicht. Robert wollte zuerst überrascht zurückzucken, dann tätschelte er ihr unbeholfen den Kopf.
»Lass uns deine Tasche holen, Mary.« Die Heimleiterin nahm sie bei der Hand. »Ich gehe mit ihr. Es könnte die anderen Kinder traurig machen, wenn sie sehen, dass Sie Mary mitnehmen. Davon träumt jedes Kind hier. Leider haben sie nicht alle so viel Glück wie die kleine Mary«
»Machen Sie bitte den anderen Kindern klar, dass sie mir immer noch am Herzen liegen und dass ich sie weiterhin besuchen werde. Und es wird auch weiterhin Kinderfeste in Zanana geben.«
»Selbstverständlich, Mrs. MacIntyre. Das ist sehr freundlich und großzügig von Ihnen.«
Mary ging durch den langen Schlafsaal, vorbei an den Reihen gleichartiger Betten. Die Heimleiterin griff nach einem kleinen Kleidersack, der am Fußende von Marys Bett lag und ihre bescheidene Kleidung und ihre wenigen kostbaren Besitztümer enthielt: eine Lumpenpuppe, die sie von einer Wohltätigkeitsorganisation einmal zu Weihnachten bekommen hatte, und ein kleines Kaleidoskop aus Pappe – ihren Preis vom Kindertag in Zanana. Sie hatte es stundenlang ans Auge gehalten und langsam gedreht, damit sich die kleinen Glasstückchen zu immer neuen Mustern zusammenfügten.
Die anderen Kinder waren im Klassenzimmer, und als Mary vorbeigeführt wurde, sahen sie alle von ihren Schiefertafeln auf, und ein Murmeln ging durch den Raum. Der Lehrer klopfte an die Wandtafel, und rasch wandten sich alle Augen wieder ihren Rechenaufgaben zu. Aber Mary hatte den Neid in ihren Blicken gesehen und ging mit stolz erhobenem Kopf weiter.
Innerhalb weniger Wochen nach ihrer Ankunft in Zanana kannte Mary jeden Zentimeter des Grundstücks, hatte sich mit allen Angestellten und Arbeitern angefreundet, besaß ihr eigenes Lämmchen und hatte sich angewöhnt, Mrs. Butterworth bei ihren häuslichen Arbeiten auf Schritt und Tritt zu folgen.
Mrs. Butterworth scheuchte sie mit einem Winken weg. »Lass das, Mary, du musst lernen, eine Dame zu sein. Nun lauf, geh in dein Spielzimmer. Bald ist es Zeit für deine Musikstunde.«
Mary verzog die Nase. Catherine brachte ihr Klavierspielen bei und gab ihr auch Schulunterricht, obwohl sie angekündigt hatte, dass eine Gouvernante kommen und bei ihnen wohnen würde, um Mary zu unterrichten, wenn sie älter wäre. Auf diesen Tag freute Mary sich gar nicht.
Catherine war entzückt von dem kleinen Mädchen, merkte aber, dass Marys überschäumende Energie sie schnell ermüdete. Ja, sie merkte wohl, dass ihre Kraft nachgelassen hatte, ignorierte aber alle Warnzeichen, denn nichts sollte ihr die Freude nehmen, Mary erblühen zu sehen.
Auch Robert erfreute sich an der Gesellschaft des kleinen
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