Das Dornenhaus
Freuden von Zanana verlassen und in die karge Umgebung des Waisenhauses zurückkehren mussten. Die Heimleiterin ließ die Kinder in einer Reihe vor Catherine antreten, die unter dem Vordach stand. Jedem Kind wurde ein bunt eingepacktes Geschenk überreicht, das zu der Nummer auf seinem Drachen passte, dann wurden sie auf Pferdekutschen gehoben, die sie in die Stadt zurückbringen würden.
Die anfängliche Schüchternheit war verflogen, und sie winkten Catherine, dankten ihr noch einmal und riefen ihr Abschiedsgrüße zu. Plötzlich löste sich ein kleines Mädchen aus einer Gruppe, rannte zu Catherine, schlang ihr die Arme um die Beine und vergrub sein Gesicht in der aprikosenfarbenen Seide ihres langen Kleides.
»Ich hab dich lieb«, schluchzte sie. »Ich möchte hier bleiben …«
Catherine hob das kleine Mädchen auf die Arme und drückte es an sich. »Wein nicht, Liebes. Du wirst wieder herkommen. Und ich werde dich besuchen.«
Sanft trug sie das Mädchen zur Kutsche und überreichte die Kleine dem Kutscher, der sie zwischen die anderen Kinder setzte.
»Gott segne euch alle«, rief Catherine und winkte ihnen zum Abschied zu.
Spontan jubelten die Kinder: »Hipp, hipp, hurra! Danke! Danke! Danke!« Sie riefen und winkten immer noch, als die Pferde mit wippenden Federn auf den Köpfen die gewundene Auffahrt hinab und aus dem großen schmiedeeisernen Tor hinaus in die Alltagswelt hinter dem Märchenland von Zanana trabten.
Robert trat vor und legte den Arm um Catherines Schultern, während sie tränenblind mit ihrem Spitzentaschentuch den verschwindenden Kutschen nachwinkte. »Mein Liebling, du hast ihnen so viel Freude bereitet.«
»O Robert, sie haben mir so viel mehr zurückgegeben.«
Gemäß ihrem Versprechen besuchte Catherine von da an jeden Monat das Waisenhaus und brachte frisches Obst und Gemüse aus Zanana mit. Bei jedem Besuch rannte das kleine Mädchen, das sich beim Abschied auf Catherine gestürzt hatte, sofort auf sie zu und klammerte sich an sie. Jedes Mal wurde sie von der Heimleiterin sanft gescholten, von Catherine losgemacht und an ihren Platz zurückgeschickt. Die eifrige kleine Fünfjährige schien immer ganz genau zu wissen, wann Catherine kam, und schlich sich zur Eingangstür, um sie als Erste zu begrüßen.
Bei ihrem ersten Besuch war Catherine stehen geblieben und hatte sich kurz mit dem helläugigen Kind unterhalten.
»Wie heißt du?«, hatte sie gefragt.
»Mary.« Die Kleine machte einen raschen Knicks und hielt mit den Händen die Ränder der Schürze fest, wie man es ihr beigebracht hatte.
»Und wie alt bist du, Mary?«
Sie hielt die Hand hoch. »Ich bin fünf Finger alt.«
Catherine unterdrückte ein Lächeln. »Und wann ist dein Geburtstag? Wann wirst du sechs?«
Das Kind sah sie verständnislos an. »Mein Geburtstag?« Sie biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
Die Heimleiterin trat vor und sagte zu Catherine: »Wir feiern einen gemeinsamen Geburtstag. Eine Geburtstagsfeier für alle. Das ist einfacher für uns.«
Catherine, die dachte, wie traurig es sein musste, den eigenen Geburtstag nicht feiern zu können, nickte und nahm Marys Hand in die ihre, während sie der Heimleiterin ins Haus folgten.
Über die Monate merkte Catherine, dass sie sich darauf freute, die entschlossene kleine Mary zu sehen, und angesichts ihrer Beharrlichkeit erlaubte die Heimleiterin Mary, das ›Empfangskomitee‹ zu bilden, wenn Catherine zu Besuch kam.
Eines Tages erkundigte sich Catherine beim Tee im kleinen Büro der Heimleiterin nach Marys Herkunft.
»Die übliche Geschichte, muss ich leider sagen. Ihre Mutter war ein armes lediges Dienstmädchen, das in Schwierigkeiten geriet. In solchen Fällen verliert man entweder die Stelle oder das Kind, doch im Falle dieses Mädchens verlor sie beides. Der Vater der kleinen Mary war der Herr des Hauses und nicht gewillt, die Vaterschaft eines Dienstbotenkindes anzuerkennen. Mary ist seit ihrer Geburt hier. Sie kennt kein anderes Zuhause.«
»Wie traurig. Sie ist so ein liebes kleines Ding.«
»Sie sind alle liebe – und einsame – Kinder, Mrs. MacIntyre«, sagte die Heimleiterin sanft.
»Natürlich, natürlich.« Aber die Heimleiterin bemerkte, dass es stets Mary war, die eine Extraliebkosung von Catherine bekam, wenn sie sich von den kleinsten Kindern verabschiedete. Und so war sie nicht allzu überrascht, als Robert MacIntyre das Waisenhaus aufsuchte, um eine bestimmte Angelegenheit mit ihr zu besprechen.
»Meine
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