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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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betraf, so hatte Amberville ihr nicht die Welt zu bieten, oder überhaupt eine Zukunft, nicht mal ein Leben. Der Ort war noch genauso langweilig, geisttötend und abgelegen wie damals bei ihrer Ankunft. Tante Harriets begrenzter Bekanntenkreis bestand aus Kleinstadtsnobs, die gegen die Labor Party waren, gegen ›die Schwarzen‹, alle Ausländer und jede drastische Veränderung der Stadt, sei es ein modernisierter Bahnhof oder die Verbreiterung einer Straße.
    Odette wollte nicht an die Universität. Sie wusste genau, was sie tun wollte und wie ablehnend Tante Harriet ihrem Traum gegenüberstand, Zeitungsreporterin zu werden. Ihre Tante betrachtete das als vorübergehende Laune, entstanden durch Odettes Teilzeitjob als Laufmädchen bei der Lokalzeitung
Clarion.
    Wenn es überhaupt Leben in Amberville gab, dann, entschied Odette, spielte es sich nur beim
Clarion
ab.
    Jeden Tag nach der Schule arbeitete sie zwei Stunden für den
Clarion
, dazu auch noch am Samstagmorgen. Sie machte Tee, betätigte sich als Botin, nahm Telefonanrufe entgegen, schnitt Artikel aus Zeitungen aus und legte sie für das Archiv ab. Zu Hause, in ihrer Freizeit, schrieb sie viele kleine Artikel, hatte aber noch nicht den Mut gefunden, sie einem der Redakteure zu zeigen.
    Harriet wusste nicht, dass Odette schon seit ihrer Kindheit geschrieben hatte. Odettes Mutter Sheila hatte es gern gehabt, wenn das Kind ihr seine Geschichten vorlas, und hatte sie ermutigt, obwohl nie die Rede davon gewesen war, daraus einen Beruf zu machen. Kreative Ambitionen wurden in der Welt von Sheila und Ralph Barber als Hobby betrachtet. Für Tante Harriet war ein guter Beruf etwas Solides wie eine Stelle bei der Bank, als Verkäuferin oder, wenn man die Fähigkeiten und die Berufung dazu hatte, als Lehrerin.
    Eines Samstagnachmittags fuhr Odette mit dem Fahrrad – gekauft von dem beim
Clarion
verdienten Geld – ihre Lieblingsstrecke am Fluss entlang. Der Vormittag bei der Zeitung war recht interessant gewesen. Ein alter Mann war mit Fotos und Briefen in die Redaktion gekommen, die noch aus der Zeit vor der Jahrhundertwende stammten. Die Familie seiner Frau hatte zu den ersten Siedlern in der Gegend gehört, und jetzt, wo seine Frau »von uns gegangen« war, hatte er ein bisschen aufgeräumt und gedacht, dass die Lokalzeitung an den Sachen interessiert sein könnte.
    Odette war gesagt worden, sie solle sich um den alten Burschen kümmern, also hatte sie mit ihm geplaudert, seinen Namen und seine Adresse notiert und ihm dafür gedankt, dass er die Hutschachtel mit den Briefen aus der Hinterlassenschaft seiner Frau gebracht hatte.
    »Die sehen aus, als könnten sie von historischer Bedeutung sein«, sagte Odette.
    Der Mann kratzte sich am Kopf, bevor er seinen Hut wieder gerade rückte. »Da weiß ich nichts von. Kommt mir vor wie ein Haufen alter Plunder. Aber sie war ein sentimentales altes Huhn und hat immer gesagt, ich dürfte nichts davon wegschmeißen. Sie meinte, eines Tages könnte sich jemand dafür interessieren. Keine Ahnung, wer sich für all den alten Kram interessieren soll. Niemand will doch noch was von der alten Zeit wissen. Sehn Sie sich’s an, Mädchen, und dann machen Sie damit, was Sie wollen.«
    Odette hatte eine Stunde damit verbracht, sich die in den Gründungstagen von Amberville aufgenommenen Fotos anzusehen. Dabei war ein besonders gelungenes von einem Ochsengespann, das mit seinem wettergegerbten Fahrer vor dem ursprünglichen Bankgebäude auf der Hauptstraße stand.
    Die Briefe schienen von einer Farmersfrau zu stammen, die außerhalb der Stadt wohnte, und an ihre Schwester gerichtet zu sein. In gestochener Handschrift erzählte sie mit stoischem Humor von der Härte ihres entbehrungsreichen Lebens. Odette fand es faszinierend und nahm sich vor, alles durchzulesen und einen Artikel für die Zeitung zu schreiben, mit Auszügen aus den Briefen und einigen der alten Fotos.
    Zum ersten Mal nahm Amberville für sie eine größere Bedeutung ein. Die Stadt hatte eine Vergangenheit, und ein Gefühl der Nostalgie weckte in Odette so etwas wie Sympathie für die fade, nichts sagende Landstadt, die sie heute kannte.
    Sie war tief in Gedanken versunken, als sie das stetige Trappeln von Pferdehufen hinter sich wahrnahm. Sie fuhr an die Seite, um den Reiter vorbeizulassen, aber stattdessen blieb das Pferd stehen. Odette sah über die Schulter und bremste mit einem plötzlichen Ruck. Vom Rücken des großen schwarzen Pferdes lächelte der

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