Das Dornenhaus
Gott! Schnell … lass uns gehn, vielleicht ist er gar nicht tot.« Harold rannte zur Tür und stolperte über sein Hosenbein.
Sid rührte sich nicht. »Er ist tot, Harry.« Nach einem kurzen Blick auf Mrs. Butterworth sagte er mit heiserer Stimme: »Er hat sich erschossen.«
Mrs. Butterworth begann zu weinen. »Ich wusste es. O nein … Der arme Mann …« Mit bebenden Schultern sank sie auf einen Stuhl und schlug die Schürze vor das Gesicht.
Harold und Sid warfen sich einen Blick zu. Langsam ging Harold zu dem schwarzen Telefonapparat, der an der Küchenwand angebracht war. »Ich rufe Sergeant Thompson an, dann gehe ich mit dir.«
Schniefend, das Gesicht immer noch tränenüberströmt, goss Gladys zwei Tassen Tee ein und reichte eine davon Sid, der sie mit zitternden Händen entgegennahm.
»Wie ist es passiert, was glaubst du, Sid?«
»Er muss mit dem Stechkahn ein Stück den Fluss hinabgefahren sein. Er hat die Schrotflinte benutzt. Ich hatte sie im Stall …« Sids Stimme zitterte. »Ich hätte sie wegschließen sollen. Aber die Füchse sind zu einer richtigen Plage geworden …« Seine Stimme verlor sich.
»Ach, die armen Kinder. Was ist nur mit Zanana geschehen, Sid? Als ob ein Fluch darauf läge. Es war so ein glückliches Haus, als wir hierher zogen …«
»Nun hör aber auf damit, Gladys«, sagte Harold streng, als er wieder in die Küche trat. »Komm, Sid, wir bringen den Stechkahn zurück zum Anlegesteg. Der Sergeant sagt, wir sollen nichts anfassen. Gladys, meinst du, du könntest Hock Lee anrufen?«
Gladys nickte. »Ja. Er wird wissen, was zu tun ist. O Gott, sie standen sich so nahe.«
Hock Lee schwieg am anderen Ende der Leitung, nachdem ihm Mrs. Butterworth die schreckliche Nachricht mitgeteilt hatte.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, Hock Lee? Sind Sie noch da?«
»Ja, Mrs. B.« Er seufzte tief. »So traurig ich auch bin, ich kann nicht sagen, dass es mich wirklich überrascht. Ich bin entsetzt, aber irgendwie wusste ich, dass etwas passieren würde. Ich komme, so schnell ich kann.«
Ruhelos wartete Mrs. Butterworth auf das Eintreffen der Polizei, auf Hock Lee und auf die Besucher, die sicher bald auftauchen würden. Aber im Moment war alles ruhig. Das Baby und Mary schliefen immer noch, die Angestellten hatten sich am Fluss versammelt. Mit hängenden Schultern ging Mrs. Butterworth durch die prächtigen Räume, die Catherine und Robert geschaffen hatten. Sie machte die Tür zum Kinderzimmer auf, in dem die kleine Kate in ihrer mit gekräuseltem Stoff bespannten Korbwiege lag. Zwei Türen weiter schlief Mary in ihrem in Blau und Weiß gehaltenen Zimmer, in dem die Besitztümer ihres neuen Lebens ordentlich aufgereiht waren. Da sie vorher nie etwas besessen hatte, ging sie sehr sorgsam mit ihren Sachen um und behandelte ihre Kleider und ihr Spielzeug pfleglich und liebevoll. Marys dunkle Locken waren über das weiße Spitzenkissen gebreitet, und sie schlief tief und fest.
Gladys Butterworths Hand krampfte sich um den Türknauf aus Porzellan, und sie schloss die Augen, plötzlich von Kummer überwältigt.
»Mach dir keine Sorgen, Catherine«, flüsterte sie abwesend, »ich lasse deinen Kindern nichts geschehen. Das verspreche ich dir. Er und du, ihr seid jetzt zusammen. Ich werde mich um die Kleinen kümmern.«
Durch den verlassenen Rosengarten fuhr ein kalter Wind und zerrte an den dornigen Büschen und Ranken, an denen jetzt keine Rosen mehr blühten.
Kapitel sechs
Amberville 1958
D ie Zeit zog sich wie zähes Gummi. Odette hatte den Eindruck, sich durch jeden einzelnen Tag geschleppt zu haben, als wäre sie durch Klebstoff gewatet. Ihre langweilige Schulzeit näherte sich dem Ende, und vor ihr lag die Zukunft.
Tante Harriet redete ständig in ahnungsvollen Tönen über die Zukunft, was Odette das Gefühl gab, von einer aus Schule, Heim und Amberville bestehenden Klippe in einen schrecklichen Abgrund zu stürzen, den Tante Harriet als Leben bezeichnete.
»Das Leben ist kein Zuckerschlecken, Odette. Du musst sorgfältig über die Zukunft nachdenken. Viele von uns hatten nicht die Vorteile, die du besitzt, und konnten nicht die Zukunft anstreben, die sie sich vielleicht gewünscht hätten.«
»Welche Vorteile meinst du, Tante Harriet?«
»Ein bequemes Leben, Sicherheit, eine gute Schulbildung. Die Welt liegt dir zu Füßen, Odette. Die Zukunft wartet auf dich. Wenn du ein Stipendium für die Universität bekommst, wird das Leben sehr viel leichter sein.«
Was Odette
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