Das Dornenhaus
sah, lächelte Mrs. Butterworth ihr zu. »Schau nicht so verbiestert, Mary. Ich weiß, dass du gerne mitkommen wolltest, aber heute hast du den ersten Unterricht bei deinem neuen Lehrer, und den willst du doch nicht verpassen, nicht wahr?«
»Ich will keinen Mann als Lehrer.«
»Mr. Brighton wird dir gefallen, und er ist ein sehr guter Lehrer. Du kannst von Glück sagen. Und er wird dir auch Klavierstunden geben.«
Mary schien immer noch zu schmollen.
Mrs. Butterworth redete weiter. »Nicht mehr lange, dann kannst du in die Dorfschule gehen. Freust du dich darauf?«
»Nein. Ich will nicht weg von Zanana.« Sie rannte den Flur hinunter und stampfte mit den Füßen auf dem gebohnerten Fußboden auf.
»Oje, Kate, Mary hat mal wieder schlechte Laune. Hoffentlich ist sie bald darüber hinweg, was?«
Das goldhaarige Baby schenkte ihr ein zufriedenes Lächeln, und Mrs. Butterworth drückte es an sich, bevor sie es in ein feines Häkeltuch hüllte.
Der Tag ging für Mrs. Butterworth allzu schnell vorbei, aber Harold drängte darauf, nach Zanana zurückzukehren, damit er aus seinen guten Schuhen herauskam und seine bequemen alten Stiefel anziehen konnte. Im Beisein von Hock Lee hatten sie in Charles Dashfords Büro die Vormundschaftspapiere unterzeichnet, hatten sich dann einige der neuen Läden in der geschäftigen George Street angeschaut und ihren Lunch gemeinsam mit Hock Lee in dessen »Lotus Tea-Rooms« eingenommen – obwohl Harold ein Humpen Bier und eine Pastete in einem der Hotels der Stadt lieber gewesen wären.
Am Nachmittag waren sie durch den sonnigen Botanischen Garten spaziert, der sich in Hufeisenform um die Bucht erstreckte, mit dem Regierungsgebäude an der westlichen Spitze und der als »Mrs. Macquaries Stuhl« bekannten Landzunge im Osten. Die Schönheit des Ausblicks hatte sich nicht verändert, seit Mrs. Macquarie, die Frau eines der ersten Gouverneure, sich eine Bank in den Sandstein hatte hauen lassen, um von dort aus den Hafen und das Küstenvorland betrachten zu können. Das glitzernde blaue Wasser schwappte gegen eine niedrige Steinmauer am Ende des Rasens, und durch die Norfolkkiefern, die Gummibäume und Palmen hindurch konnte man die Masten und Schornsteine der Schiffe aus aller Welt sehen.
Den Butterworths wurde die ganze Freude an diesem herrlichen Tag verdorben, als sie in der Dämmerung Zanana erreichten und eine aufgeregte Nettie Johnson vorfanden, die ihre Hände rang. »Es geht um Mary. Ich kann sie nirgends finden, Gladys. Ich habe nach ihrer Unterrichtsstunde mit dem Tee auf sie gewartet, aber sie ist nicht erschienen. Und dann rief Mr. Brighton an und sagte, es täte ihm leid, aber er hätte nicht kommen können … sein Pferd würde lahmen oder was weiß ich.«
»Wo ist Sid? Wir rufen besser die Männer zusammen und machen uns auf die Suche nach ihr«, sagte Harold.
»Was kann ihr denn nur passiert sein? Hier hätte sie doch in Sicherheit sein müssen. Ich hoffe nur, sie hat nichts Dummes angestellt und ist wieder mal weggelaufen«, meinte Mrs. Butterworth besorgt.
Nettie nahm ihr das Baby ab. »Komm, du musst müde sein. Trink eine Tasse Tee, während die Männer nach Mary suchen.«
»Hast du auch bestimmt in allen Zimmern nachgeschaut, Nettie?«
»Ja, Gladys. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Sid meint, sie hat sich vielleicht versteckt, weil sie böse war, dass ihr sie heute nicht mitgenommen habt.«
Mrs. Butterworth blieb wie angewurzelt stehen. »Da mag er Recht haben. So hatte ich das gar nicht gesehen, Nettie. Und sie war in letzter Zeit so traurig. Ja … ich glaube, ich weiß, wo sie sein könnte.« Mrs. Butterworth raffte ihren guten Seidenrock zusammen und lief so schnell, wie es ihr in den hochhackigen Schuhen möglich war, im rasch schwindenden Licht durch den Garten.
Das indische Haus war dunkel, und Mrs. Butterworth drückte mit einiger Beklommenheit gegen die Tür. Sie öffnete sich knarrend. Drinnen war alles still, Sandelholzduft erfüllte die Dunkelheit.
»Mary … Mary … bist du hier, Liebes?«
Ein leises Rascheln war zu hören. Mrs. Butterworth trat ein. Sie konnte gerade noch die Umrisse des großen Baldachinbettes erkennen.
»Mary …?«
Mit dem Schrei eines verwundeten Tieres schoss etwas auf sie zu, stieß mit ihr zusammen und floh durch die Tür in die Nacht. Der heisere Schrei hing noch in der Luft, als Mrs. Butterworth um Atem ringend ihr wild pochendes Herz zu beruhigen versuchte.
»Was ist nur los mit dem Kind?
Weitere Kostenlose Bücher