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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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fassen und zog sie zu sich heran. Es gab ein reißendes Geräusch, als sich ein Teil des Nachthemds an der Dachrinne verfing. Dann klemmte er sich das kleine Bündel mit einem Gefühl der Erleichterung unter den Arm. Sie hörte auf zu schreien und lag still. Langsam und schwerfällig zog er sich am Laken wieder zum Fenster hinauf. Sobald seine Hand den Sims erreichte, blieb er liegen, und Gladys eilte zu ihm.
    »Gib sie mir!« Sie nahm das Baby, und Harold kletterte durch das Fenster. »Gott sei Dank scheint ihr nichts passiert zu sein«, sagte Gladys und betastete das Baby mit den Händen. »Sie strampelt und bewegt sich. Hat keinen Kratzer abbekommen. Sie ist nur ein bisschen erschrocken. Ein Wunder!«
    Harold sah sich rasch im Zimmer um. »Wo ist sie?«
    »Du solltest sie besser suchen, Harold. Wahrscheinlich ist sie im indischen Haus. Jetzt müssen wir auf jeden Fall Hock Lee benachrichtigen.«
    Hock Lee kam einige Zeit später und brachte einen Arzt mit. Mary war in ihrem Zimmer eingesperrt, sie hatte sich geweigert, mit jemandem zu sprechen.
    Als Mrs. Butterworth den Tee servierte, erklärte Hock Lee, dass der Herr, den er mitgebracht hatte, Doktor Hodgkiss sei. »Aber er ist kein Doktor im üblichen Sinne«, fügte er hinzu.
    »Ich beschäftige mich ebenso mit der Heilung des Geistes wie auch des Körpers. Man nennt es Psychologie. Es ist ein ziemlich neues Wissensgebiet«, sagte der Doktor.
    »Sie glauben, Marys Geist sei krank?«, fragte Harold.
    »Sie scheint ernstlich gestört zu sein. Offen gesagt, ist das nur zu verständlich angesichts ihrer Geschichte. Sie hat ein sehr unglückliches Leben gehabt, eines, in dem sie dauernd verlassen wurde. Zuerst von ihrer leiblichen Mutter, von ihrem Vater wissen wir nichts. Dann erhält sie von Mrs. MacIntyre die Liebe und Aufmerksamkeit, nach der sie sich sehnt, und auch die wird ihr wieder genommen. Wofür sie das Baby verantwortlich macht. Sie hat Angst, wieder verlassen zu werden, also hängt sie sich verzweifelt an Robert – um sich zu integrieren –, aber auch er verlässt sie. Trotz der guten Absichten von Ihnen und Ihrer Frau, Mr. Butterworth, fürchtet sie um ihre Position in Zanana. Sie wusste, dass Sie Papiere unterschrieben haben, die das Baby an Sie binden, während sie selbst im Ungewissen blieb. Kate stand ihr immer im Weg. Indem sie Kate beseitigte, meinte sie, an der einzigen Sicherheit und Geborgenheit, die sie je gekannt hat, festhalten zu können.«
    »Meine Güte. Oh, das arme Kind.« Mit Tränen in den Augen stellte Gladys die Teekanne ab. »Wenn wir doch nur gewusst hätten, was in ihrem Kopf vorgeht.«
    »Wir müssen vor allem dankbar sein, dass Kate nichts passiert ist«, meinte Hock Lee. »Mary ist in der Tat ein trauriges Kind.«
    »Aber ist es nicht gefährlich, sie weiter in Kates Nähe zu lassen?«, fragte Harold.
    »Das ist genau der Punkt. Ehrlich gesagt, ich halte es für ein Risiko. Bis sie älter und besser … angepasst ist«, sagte Doktor Hodgkiss, »würde ich sie gerne regelmäßig sehen.«
    Mrs. Butterworth warf Hock Lee einen besorgten Blick zu. »Aber was wird mit ihr geschehen? Sie kann nicht zurück ins Waisenhaus. Das würde sie umbringen. Oje, oje.« Gladys begann zu weinen.
    »Beruhige dich, Gladys.« Harold tätschelte ihre Hand. »Nimm dich zusammen.«
    Hock Lee trank nachdenklich seinen Tee. »Ich schlage Folgendes vor: Es gibt eine sehr gute Mädchenschule in Sydney, an der Rose Bay. Mary ist alt genug, um ins Internat zu kommen. In den Ferien werde ich sie zu meiner Familie holen. Und wenn der Doktor meint, dass es ihr gut genug geht, kann sie Zanana besuchen. Sie können sie sonntags in der Schule besuchen und den Tag mit ihr verbringen. Ich werde es mit Charles Dashford besprechen. Ihr Schulgeld und ihr Unterhalt werden aus dem Treuhandvermögen bezahlt.«
    »Nun, das kommt mir wie eine vernünftige Lösung vor«, gab Harold zu. »Zumindest für den Übergang.«
    Gladys schniefte. »Sie ist erst acht Jahre alt. Sie ist immer noch ein kleines Mädchen. Mir kommt das so vor, als würde sie damit nur in eine weitere … Institution abgeschoben.«
    »Das ist eine sehr teure und gute Schule, Mrs. B.«, versicherte ihr Hock Lee. »Dadurch wird sie im späteren Leben viele Vorteile haben.«
    Mrs. Butterworth nickte und wandte sich dann an den Doktor. »Wissen Sie, Mary war so ein strahlendes, fröhliches kleines Ding, als sie zu uns kam. Catherine verliebte sich bei dem Kinderfest gleich in sie.«
    »Ja,

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