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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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und niemand kam auf die Idee, dass ihre junge Nichte, die still im verdunkelten Zuschauerraum der Schulaula gesessen hatte, für die Geschichte mit ihrer beißenden Kritik verantwortlich war. Hätte Tante Harriet gewusst, dass diese Schlange aus ihrem eigenen Nest stammte, wäre es ihr unmöglich gewesen, sich jemals wieder im Theater blicken zu lassen.
    Beim Frühstück verschluckte sich Tante Harriet beinahe an ihrem Marmeladentoast. »Du musst unbedingt herausfinden, Odette, wer für diesen unverschämten Artikel verantwortlich ist. Er lässt uns alle wie vollkommene Idioten dastehen.«
    »Das war humorvoll gemeint, Tante Harriet. Ich meine, all diese als Schafe verkleideten Farmersfrauen …« Odette konnte sich das Lachen kaum verkneifen.
    »Es handelt sich um eine ländliche Satire, Odette. Einige gebildete Leute haben das durchaus wahrgenommen, aber es war offenbar zu subtil für diese holzköpfigen Zeitungsleute.«
    »Offenbar, Tante Harriet. Also, ich muss jetzt los zu dieser Bande von stumpfsinnigen und begriffsstutzigen Holzköpfen. Bis heute Abend.«
    »Sei nicht so schnippisch, Odette, das passt nicht zu dir.«
    Aber Odette hatte den Raum schon verlassen.
    Die Beziehung zwischen Odette und ihrer Tante war generell freundlich, aber distanziert. Während der Jahre, in denen sie zusammenlebten, hatte sie Harriets Leben um eine neue Dimension bereichert, trotz Harriets ständiger Beschwerden über zusätzliche Kosten, Arbeit und Verantwortung.
    Für Odette konnte niemand die riesige, klaffende Lücke ausfüllen, die beim Tod ihrer Eltern in ihrem Leben entstanden war. Sie war Tante Harriet dankbar und wusste, dass deren barsches Verhalten und ihre Pedanterie oft nur das verzweifelte Bedürfnis nach Zuneigung verbargen. Das verursachte Odette manchmal Schuldgefühle. Es fiel ihnen beiden schwer, einander Wärme und Zuneigung zu zeigen. Odette hatte den Verdacht, dass ihre Tante, wenn sie ihr um den Hals fallen und ihr einen Kuss geben würde, eine solche Liebesbezeugung – sosehr sich die alte Frau das auch wünschen mochte – nur mit einer barschen, nüchternen Bemerkung abwehren würde.
    Sie wusste, dass ihre Tante sie auf ihre eigene Art liebte und dass sie ihr am Herzen lag, aber Harriet zeigte das durch Taten, nicht durch Worte – das Stück Kuchen, Tasse, Untertasse und Milchkrug, die ordentlich mit einem Tuch bedeckt auf dem Tisch standen, wenn Odette spät von der Arbeit kam, die fein gestrickten, wenn auch schlichten Pullover, ihre stets gestärkten und sorgsam gebügelten Kleider, obwohl Odette angeboten hatte, das selbst zu machen.
    Ihre Tante machte sonntags Ausflüge mit ihr, kleine Fahrten zu nahe gelegenen Sehenswürdigkeiten. Manchmal gab sich Harriet, während sie mit Lederhandschuhen an den Händen am Steuer ihres zwei Jahre alten Holden saß, den Erinnerungen an ihre Jugendzeit hin. Dabei kam eine Seite von Harriet zum Vorschein, die Odette eher traurig fand.
    Harriet war eine glänzende Schülerin, und wenn ihre Eltern wohlhabender gewesen wären, hätte sie auf die Universität gehen können. Stattdessen fand sie Arbeit bei einer Bank im Ort und wurde bald in eine größere Zweigstelle versetzt. Obwohl eine Frau nicht Bankdirektor werden konnte, wusste Harriet, dass sie für Höheres bestimmt war. Eine wichtige Stelle bei einer Bank in der Stadt stand ihr in Aussicht. Doch nach dem Tod ihrer Mutter musste sie nach Hause zurückkehren und für ihren kranken Vater sorgen.
    »Ich wünschte, du hättest deinen Großvater gekannt. Er war ein wunderbarer Mann, hatte einen so trockenen Humor. Dein Vater hat ein bisschen was davon geerbt, würde ich sagen. Natürlich bedauere ich es nicht, meinen Beruf aufgegeben zu haben, um mich um Vater zu kümmern, dein Dad konnte das nicht, hatte sein eigenes Leben und seine Familie. Es war meine Pflicht, und ich kann mit erhobenem Kopf vor Gott treten und ihm in die Augen schauen, Odette, weil ich mich um meine Eltern gekümmert und ihnen das Leben angenehm und erfreulich gemacht habe bis zum Tage ihres Todes.«
    Odette gab anerkennendes Gemurmel von sich über die Tugendhaftigkeit und den Edelmut von Harriets Pflichtgefühl, aber in ihrem Inneren fragte sie sich, ob Harriet das Richtige getan hatte.
    Hatte Harriets Vater je auch nur das geringste Schuldgefühl empfunden? Schließlich wusste er, dass sie ihre Chancen auf eine erfolgreiche Karriere und vielleicht eine Ehe aufgegeben hatte, um einen alten Mann zu pflegen. Vielleicht wäre er

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