Das Dornenhaus
glücklicher gewesen, wenn seine Tochter ein erfülltes und zufriedenes Leben gelebt hätte, auch wenn das bedeutet hätte, sie seltener zu sehen.
Odette fühlte sich unbehaglich, weil sie spürte, dass hinter Tante Harriets Worten die versteckte Andeutung lag, auch sie, Odette, müsse sich ihrer Familienpflichten bewusst sein: Odette verdrängte die Gedanken an Tante Harriet, als sie mit dem Fahrrad in den Hof des
Clarion
einbog. Sie stellte das Rad in einer Ecke ab und fuhr sich mit den Fingern durch das windzerzauste Haar. Dann ging sie durch die lärmende Setzerei und winkte Mac, dem Setzer, zu, dessen ratternde Linotype Dutzende von Bleizeilen ausspuckte. Heute blieb sie nicht zum Schwätzen bei ihm stehen, da sie spät dran war und man sich mit Mac, der ununterbrochen weiter die Buchstaben setzte, bei dem ohrenbetäubenden Krach der alten Maschinen nur schwer unterhalten konnte.
An ihrem Schreibtisch nahm Odette Manuskriptblätter und Notizblock aus ihrer Schultasche, die ihr als Aktentasche diente, und beeilte sich dann, den Morgentee zu machen, damit er fertig war, wenn die anderen kamen. Es wurde als selbstverständlich betrachtet, dass sie das tat, aber Odette machte es nichts aus, weil für sie Tee genauso wichtig war wie für die anderen. Tony James behauptete, Odette würde »mit Tee angetrieben wie ein Auto mit Benzin«. Der Chefredakteur erschien als Letzter und nickte nur zur Antwort auf das ihm entgegenschallende »Morgen, Mr. Fitz«, während er mit trüben Augen auf sein Büro zuging.
»Der hat gestern Abend zu tief ins Glas geschaut, würde ich sagen«, flüsterte Tony Odette zu.
»Wenn er erst mal drei Tassen von meinem Tee intus hat, wird er schon zu sich kommen«, lachte Odette.
»Ich geh rüber zum Gericht und schau mal, welche weltbewegenden Verhandlungen für nächste Woche angesetzt sind. Bis dann.« Tony schnappte sich seine Jacke von der Stuhllehne und verschwand.
Nach seiner zweiten Tasse starkem schwarzen Tee war Mr. Fitz wieder funktionsfähig. »Odette, hol mir Mac her. Dann komm in einer Stunde wieder, ich hab da vielleicht was für dich.«
Odette war damit beschäftigt, Artikel aus den überregionalen Zeitungen für die Referenzbibliothek des
Clarion
auszuschneiden, als der inzwischen wiederhergestellte Chefredakteur an die Glaswand klopfte und sie zu sich winkte. Odette sprang auf, griff dann nach Notizblock und Stift. Sie war dafür gerügt worden, dass sie sich keine Notizen machte, wenn er mit ihr sprach.
Er war kurz angebunden und kam gleich zur Sache. »Ich möchte, dass du zum Fluss runtergehst und mit der Bande redest, die da kampiert. Die Bevölkerung ist ihretwegen in Aufruhr. Könnte zu Auseinandersetzungen führen. Sieh zu, dass du beide Seiten der Geschichte zu hören kriegst.«
»Äh … welcher Geschichte, Mr. Fitzpatrick?«
»Zigeuner, Mädchen. Die kommen so alle zwei Jahre hier vorbei. Finde heraus, was du kannst. Nimm Horrie mit, um ein paar Fotos zu machen. Horrie ist ein kräftiger Kerl, also werden sie dir nichts tun, solange er bei dir ist.«
»Zigeuner sind nicht gefährlich.«
»Ach ja? Frag mal die Leute hier, die von ihnen beklaut und betrogen worden sind. Sieh zu, dass du alles über sie rauskriegst – woher sie kommen, wohin sie gehen, wer sie sind und so weiter.«
»Wie lang soll der Artikel werden?«, fragte sie vorsichtig.
»So lang, wie er sein muss. Und jetzt los«, knurrte er.
Als sie aus dem Büro lief und nach Horrie rief, wurden seine Gesichtszüge weicher. Er fasste sie manchmal hart an, aber er wusste, dass sie ein Talent besaß, dessen sie sich noch gar nicht bewusst war. Ihr Schreibstil war nicht oberflächlich, sie hatte ein Geschick für Beschreibungen, und sie konnte mit den Leuten auf eine Art reden, die sie viel mehr sagen ließ, als sie eigentlich wollten. Sie war noch zu weich und zu sensibel, aber sie würde es weit bringen, und er hoffte, dass ihr seine Führung in ihrer Anfangszeit auf die richtige Spur verhalf.
Odette überlegte, ob sie erst zur Schmiede gehen und mit Zac reden sollte, aber als Horrie mit seinem Holden-Kombi auf die Hauptstraße einbog, überlegte sie es sich anders.
Während Zac in den letzten Monaten in der Stadt geblieben war und gearbeitet hatte, waren die Zigeuner weitergezogen. Odette hatte nicht gewusst, dass sie zu ihrem Lager am Fluss zurückgekehrt waren.
»Weißt du irgendwas über die Zigeuner, Horrie?«, fragte sie.
»Nichts Gutes. Ich glaube, wir sollten lieber anhalten,
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