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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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in den USA Musik studiert hatte, sprach er perfekt Englisch mit einem charmanten Akzent, ein bisschen wie ein Filmstar. Wann immer ich mich nach Thornfield House begab, hatte ich Schmetterlinge im Bauch vor lauter Vorfreude, bald Mr   Brecht nahe zu sein, mit seinen langen Beinen, seiner neckenden Art, seinen Zigaretten und seinen spitzen Stiefeln.
    »Unsere kleine englische Rose ist wieder da!«, sagte er jedes Mal, wenn er mich erblickte. Dann zog er mich zur Tür herein und nahm mich mit seinem Lächeln, seinem Augenzwinkern, seiner Warmherzigkeit gefangen. O Gott, und wie gut er aussah, mit seinen ebenmäßigen weißen Zähnen und dem dunklen, weichen Haar, das ihm in die mandelförmigen braunen Augen fiel. Seine hochgerollten Hemdärmel gaben den Blick auf seine dunkel behaarten Unterarme und die kräftigen Handgelenke frei. Er hatte lange Finger mit rechteckig geformten Fingernägeln – die Hände eines Pianisten. Er neckte mich gern oder machte kleine Scherze. Mal tat er so, als säße eine Spinne auf meinem Rücken, dann wieder kitzelte oder erschreckte er mich oder brachte mir ein Ständchen dar, sodass ich kichern musste. In seiner Gegenwart verging ich fast vor Glück.
    »Kommt her, ihr beiden!«, sagte er oft, wobei er in die Hände klatschte, während er im Qualm der Zigarette zwischen seinen Lippen ein Auge zukniff. »Hier sind fünfzig Pence für diejenige, die den besten Handstand macht.«
    Ich beherrschte den Handstand nicht besonders gut. Ellen konnte eine Ewigkeit oben bleiben, konnte sogar die Beine rückwärts überschlagen zu einer Brücke. Ich dagegen schaffte gerade einmal ein paar Sekunden, tat aber mein Bestes, um Mr   Brecht zu gefallen. Meistens verkündete er am Ende unseres Wettstreits ein Unentschieden, es sei denn, Ellen hatte mal wieder angegeben, sich aufgespielt oder sich auf andere Weise danebenbenommen, dann rief er mich zur Siegerin aus. Zu meinem Glück tat sie das mit schöner Regelmäßigkeit.
    Ellen war nur neun Monate jünger als ich, aber manchmal benahm sie sich recht kindisch. Außerdem erzählte sie gern haarsträubende Geschichten – unentwegt log sie, auch wenn es gar keinen Anlass gab. Es war wie eine Obsession, gegen die sie machtlos war.
    Einmal fragte ich sie: »In was für einem Haus habt ihr in Deutschland gewohnt?«, und sie antwortete: »In einem Schloss.«
    Ich sah sie ungläubig an.
    »Doch, das stimmt«, sagte sie. »Es war ein richtiges Schloss mit einem Burggraben und einem Turm. Die Familie meines Vaters ist mit dem Königshaus verwandt. Also sei schön nett zu mir, Hannah Brown, ansonsten lass ich dich köpfen!«
    Wieder zu Hause, erzählte ich es meiner Mutter. Sie meinte, ich solle nicht so leichtgläubig sein.
    Ein andermal fanden wir eine tote Taube im Teich hinter Thornfield House. Ellen fischte den Vogel aus dem Wasser. Als Mrs   Todd herauskam und sie mit dem tropfnassen Kadaver, dessen Kopf leblos herabbaumelte, in den Händen dastehen sah, fragte sie, was passiert sei, und Ellen erwiderte:
    »Ich habe sie ertränkt.« Dann hob sie den Vogel ans Gesicht und küsste seinen Schnabel.
    Mrs   Todd packte Ellen am Arm. Was sie nur für ein boshaftes Mädchen sei, sagte sie, und zerrte sie hinter sich her ins Haus. Der Vogel entglitt ihren Händen und fiel in den Teich zurück, und ich ging nach Hause.
    Als ich Ellen später fragte, warum sie gesagt habe, sie hätte den Vogel getötet, konnte sie es mir nicht erklären.
    Wenn Ellen besonders unartig war, beachtete Mr   Brecht sie nicht, sondern schenkte mir seine volle Aufmerksamkeit. Ich wiederum betrachtete das als große Ehre und genoss es in vollen Zügen, ihn nicht mit ihr teilen zu müssen. Bei solchen Gelegenheiten führte ich ein paar Tanzschritte vor, die ich stundenlang vor dem Spiegel geübt hatte, oder heuchelte Bewunderung für seine Zaubertricks oder die albernen und manchmal auch ziemlich ordinären Texte, mit denen er bekannte Lieder verballhornte, und klatschte begeistert dazu.
    Währenddessen versteckte sich Ellen, bis sie es leid war, allein zu sein. Es dauerte nie lange, bis sie wieder auftauchte, auf einer Haarsträhne kauend und schmollend. Eine Weile tat Mr   Brecht, als bemerkte er sie nicht. Dann war er plötzlich mit einem Satz bei ihr, hob sie hoch, wirbelte sie herum und vollführte einen wilden Tanz mit ihr durch den Garten, sodass es ihr angst und bang wurde. Dazu sang Mr   Brecht My girl! und beugte sich mit ihr im Arm weit nach vorn, sodass Ellens Rücken nach

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