Das Dornenhaus
dagegen nicht so mein Fall. Ich war ihr bei verschiedenen Anlässen – Abendessen und anderen Veranstaltungen – begegnet. Sie liebte tiefe Dekolletés und war sich ganz offensichtlich ihrer erotischen Wirkung bewusst. Sie gehörte zu der Sorte Frauen, die gern ihre Reize zur Schau stellten. Bei der Vernissage der Sommerausstellung im Museum hatte ich gehört, wie sie, umringt von einer Schar Bewunderern, über ihren Mann sprach. »John ist besessen von syphilitischen alten Knochen«, sagte sie mit strahlendem Lächeln und einem theatralischen Schaudern. »Wenn er nur in seinen alten Gräbern buddeln kann, ist er in seinem Element!« Alle lachten, bis auf mich.
Aber noch schlimmer waren die Gerüchte, die über sie kursierten. Wenn man im Team der akademischen Angestellten der Universität arbeitete, bekam man unweigerlich den Klatsch mit, der über Charlotte und den Dekan der Englischen Fakultät in Umlauf war. Ich hatte keine Ahnung, ob die Gerüchte wahr waren oder nicht, vermutete jedoch, dass irgendetwas daran sein musste. John war einer der ehrlichsten und anständigsten Menschen, die ich kannte. Der Gedanke, dass er verletzt und gedemütigt wurde, war mir unerträglich. Deswegen ging ich Charlotte möglichst aus dem Weg.
John hatte das Dach seines kleinen Sportwagens geöffnet, und während wir durch die allmählich ruhiger werdenden Straßen von St. Paul und dann ins Zentrum von Bristol fuhren, fühlte ich mich schon wesentlich besser. Der Sommerwind strich mir warm durchs Haar. Ich schloss die Augen, genoss die milde Brise auf dem Gesicht und atmete die Gerüche der Stadt ein. Plötzlich war ich dankbar, draußen zu sein, statt allein in meiner Wohnung.
Als wir an einer roten Ampel hielten, sah ich John an. Er drehte mir ebenfalls das Gesicht zu und erwiderte mein Lächeln. Seine freundliche Art war Balsam für meine Seele. Mit einem Mal wünschte ich, wir wären ein Paar und ich könnte dem Impuls, die Hand auszustrecken und auf seine zu legen, nachgeben. Er würde mir Halt geben, würde mich nicht mehr gehen lassen. In einer Welt voller Widersprüchlichkeiten war John eine Konstante, jemand, auf den Verlass war. An diesem Abend wünschte ich, er und Charlotte wären sich nie begegnet, hätten nie geheiratet und nie Kinder bekommen. Wenn das Schicksal es anders gewollt hätte, wenn ich an ihrer Stelle wäre, dann …
Hör auf, dir Illusionen zu machen, Hannah! , flüsterte Ellens Stimme mir ins Ohr. Er hätte dich nicht eines zweiten Blickes gewürdigt .
Als John bei Grün wieder anfuhr, wandte ich das Gesicht zum Seitenfenster und ließ, die Hände im Schoß verschränkt, die Stadt an mir vorbeiziehen. Ich gab mir alle Mühe, Ellen zu ignorieren, aber sie war da; die ganze Zeit war sie da wie hartnäckige Kopfschmerzen. Ich spürte ihre Gegenwart in den goldenen Streifen am dämmrigen Abendhimmel; ich erhaschte ihr Spiegelbild in den Glasscheiben der Schaufenster; ich hörte ihre Stimme im Abendwind.
Ich werde nicht weggehen, Hannah, flüsterte die Stimme. Du weißt es. Weder jetzt. Noch irgendwann.
SECHS
I n jenem Sommer, als die Brechts in Thornfield House eingezogen waren, ging ich während der Schulferien fast jeden Tag dorthin. Meine Eltern arbeiteten, Jago half auf dem Bauernhof der Williams, und ich langweilte mich zu Hause. Für ein Mädchen gab es in Trethene nichts zu tun, und ich liebte es, Ellen und ihre Eltern zu besuchen. Es machte mir Spaß zuzusehen, wie sie sich in ihrem Haus einrichteten, wie die Zimmer nach und nach neu möbliert und dekoriert wurden und der Garten von Unkraut und Gestrüpp befreit wurde. Wie sämtliche Spuren von Mrs Withiel überdeckt oder entfernt wurden. Mr und Mrs Brecht waren nicht so wie die anderen Erwachsenen, die ich kannte. Sie gaben mir das Gefühl, willkommen zu sein, als wäre ich etwas Besonderes. Sie waren wesentlich kultivierter als die Dorfbewohner von Trethene. An ihren Stiefeln haftete keine Erde, ihre Haut war nicht rot und von Wind und Wetter gegerbt wie die der Bauern, die den ganzen Tag unter freiem Himmel verbrachten, und sie interessierten sich für andere Dinge als für das Wetter, die Urlaubsgäste und die Gezeiten. Die Brechts waren glamourös, attraktiv und exotisch und gaben mir das Gefühl, eine von ihnen zu sein – fast zumindest. Ich wollte so viel Zeit wie möglich mit ihnen verbringen, in der Hoffnung, ein wenig von ihrem Glanz würde auf mich abfärben.
Ellens Vater war Deutscher. Weil er mit einem Stipendium
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