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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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Medikamenten und Gesprächstherapie, mich so weit wiederhergestellt hatte, dass ich mich in die Obhut meiner leidgeprüften Eltern begeben konnte. Ich wollte nicht, dass John mich in diesem Licht sah.
    »Wirklich, es geht mir gut«, sagte ich noch einmal.
    John nickte. »Gott sei Dank bin ich von Migräne verschont«, sagte er. »Aber Charlottes Mutter leidet schrecklich darunter.«
    Ich brachte ein mitfühlendes Lächeln zustande. »Die Arme.«
    Der Kellner kam wieder und stellte eine Warmhalteplatte zwischen uns auf den Tisch und darauf einen Teller, auf dem mit Kräutern gewürzte Lammkoteletts und mit Rinderhackfleisch gefüllte Tomaten lagen. Darum herum verteilte er Schüsseln mit gehackter Gurke, Salat und Bulgur. Eine Weile aßen wir schweigend. Ich hatte Hunger. Genüsslich leckte ich mir das Fett der Lammkoteletts von den Fingern und schob die Knochen an den Tellerrand. Während John von seinen Plänen für den Museumsanbau sprach, versuchte ich, mich zu entspannen. Ich wusste, dass der Neubau neue Möglichkeiten für interaktive Ausstellungen eröffnen und das Museum bereit für die Anforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts machen würde, und war gespannt, was John dazu zu sagen hatte. Alles ging gut – bis die Tür aufging und eine Frau und ein Mann hereinkamen. Die Art, wie sie das Haar hinter die Ohren geschoben hatte, und die Form ihrer Augenbrauen erinnerten mich an Ellen. Plötzlich, wie aus dem Nichts, erfasste mich ein emotionaler Aufruhr, gegen den ich den ganzen Nachmittag angekämpft hatte.
    Ich vermisste Ellen so sehr, und gleichzeitig wünschte ich, wir wären uns nie begegnet. Ich hatte sie geliebt und gleichzeitig gehasst. Ich wollte ihr helfen und wollte sie zerstören. Mehr als alles wünschte ich, sie wäre noch am Leben; gleichzeitig war ich froh, dass sie tot war. Ein Widerstreit der Gefühle tobte in mir, den ich rational nicht erfassen konnte. Mein Herz schien anzuschwellen, presste schmerzhaft gegen die Rippen. Es war angefüllt mit einer Mischung aus Liebe und blindem Zorn. Ein Gefühlsgemisch, das sich seit Ellens Tod und Jagos Auswanderung nach Kanada in Ermangelung eines Ventils, durch das es hätte entweichen können, in einen kleinen harten Knäuel unterdrückter Emotionen verwandelt hatte. John sagte etwas im Zusammenhang mit dem Amulett, das ich am Nachmittag im Museum hatte fallen lassen; er selbst sei in die Ägyptische Galerie hinaufgegangen, um bei der Suche zu helfen, und es sei Aufregung entstanden, nachdem es zunächst nicht auffindbar war. Ich versuchte, ihm meine Aufmerksamkeit zu schenken, aber es war zu spät. Die Tränen strömten mir bereits ungehindert über die Wangen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.
    John sah mich besorgt an. »Was ist denn los, Hannah? Was ist passiert? Herrgott, tut mir leid, ich wollte dich nicht aufregen.«
    »Das hast du nicht … Es hat nichts mit dir zu tun …«
    »Es ist alles gut!«, sagte er. »Jemand hat das Amulett gefunden und es im Büro abgegeben. Alles ist in Ordnung …«
    »Das ist es nicht …«
    »Nein?« Er sah mich forschend an.
    Ich bemühte mich um Fassung, versuchte, meine Gefühle hinunterzuschlucken, sie wieder tief in meinem Inneren zu verschließen.
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Kümmere dich nicht um mich, bitte. Ich bin nicht ich selbst.«
    »Diese verdammte Migräne! Komm, trink. Hier, nimm diese Serviette. Iss doch noch ein Lammkotelett.«
    Ich lächelte zaghaft und tupfte mir mit der Ecke der Serviette die Augen trocken. Die Gäste an den Nachbartischen bemühten sich, mich nicht anzusehen, aber die Tische standen so nah beieinander, dass ich unweigerlich Blicke auf mich zog. Die Gespräche um uns herum waren mehr oder weniger erstorben.
    John räusperte sich. Dann zerteilte er die gegrillte Tomate auf seinem Teller und begann wieder zu essen. Der Gedanke, ihn in Verlegenheit gebracht zu haben, beschämte mich.
    »Es tut mir so leid«, sagte ich erneut.
    »Vergiss es. So was kann passieren.« Er lächelte und drückte sanft meinen Ellbogen. »Es geht dir auch wirklich gut, Hannah? Du würdest es mir doch sagen, wenn ich etwas für dich tun könnte?«
    Ich nickte. Einen Moment lang gab ich mich der Illusion hin, wir wären ein Paar und er wäre immer an meiner Seite, um mich aufzufangen, wenn ich hinfiel, mich wieder auf die Füße zu stellen und mir den Staub von den Kleidern zu klopfen. Ich stellte mir vor, was es für eine Erleichterung wäre, ihm die Wahrheit erzählen zu können,

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