Das Dornenhaus
verdammt noch mal, wach endlich auf!«, rief ich. »Sie liebt dich nicht! Sie hat abgetrieben.«
Eine Weile starrten wir uns an. Ich war nicht minder schockiert als er.
»Nein!«, sagte Jago. »Nein!«
»Doch! Ich war mit ihr in der Klinik.«
Er stieß mich weg, so hart, dass ich rückwärts in Richtung Gartentor taumelte und stürzte.
»Du lügst!«
»Wie könnte ich lügen?« Ich kroch auf allen vieren zu ihm. Meine Stimme wurde lauter, hässlich, gemein. »Du hast ihr gesagt, sie soll niemandem was von dem Baby sagen. Nicht einmal mir! Aber sie hat es mir gesagt, und sie hat auch gesagt, dass sie kein uneheliches Kind will, nicht von dir. Und ich war dabei, als sie es abgetrieben hat. Ich war dabei!«
»Nein …«
»Sie hat es sich anders überlegt, Jago!«, rief ich, umklammerte seine Knie und schüttelte ihn. »Sie will dich nicht mehr.« Ich rappelte mich hoch und reckte mich auf die Zehenspitzen, damit ich ihm direkt in die Augen sehen konnte, und schrie: »Du bist ihr egal! Sie hat gesagt, du bist langweilig und ungebildet! Dass sie eine bessere Partie machen kann! Deswegen wird sie nirgendwohin mit dir gehen! Deswegen will sie dich nicht mehr sehen! Deswegen hat sie dein Baby wegmachen lassen.«
EINUNDSECHZIG
K irsten hatte die gleichen schlanken, langen Finger und schmalen Füße wie Ellen. Ihren linken Knöchel zierte ein Tattoo, ein Thai-Segensspruch, der sich an der Außenseite ihres Unterschenkels hinaufzog. Außerdem hatte sie ein Zungen-Piercing, und die Unterseite einer Haarsträhne war rosa gefärbt, sodass sie die Färbung verbergen konnte, wenn sie zur Arbeit ging, wie sie erklärte. Ihre Zähne waren ebenmäßig und weiß, sie lächelte gern und hatte wunderschöne Augen. Sie sprühte ebenso vor Charme wie Ellen, war aber frei von den Ängsten, die diese immer verfolgt hatten. Sie schien eher Karlas sonniges Gemüt geerbt oder angenommen zu haben.
In meinem Kopf arbeitete es, meine Gedanken rasten. Keinen konnte ich zu Ende denken, keiner machte Sinn.
»Ich verstehe nicht«, sagte ich. »Wie kannst du Ellens Tochter sein? Sie kann doch unmöglich vor ihrem Tod noch mal schwanger gewesen sein. Da war doch gar nicht genügend Zeit …«
Eine junge Frau kam mit einem Tablett Erfrischungen aus dem Schloss. John, der auf dem Rand des Springbrunnens hockte, nahm es ihr ab. Eiskaffee und Kuchen standen darauf. Das Mädchen setzte sich zu uns. Ihr Haar war kurz geschnitten, und an ihren Ohren und im Gesicht glitzerte Körperschmuck. Sie trug Punk-Klamotten, stellte sich als Kirstens Freundin vor und hieß Doreen.
»Ich verstehe nicht«, sagte ich erneut. Ich konnte nicht anders, als Kirsten unverwandt anzusehen. Es war, als würde ich sie kennen, hätte ich sie immer schon gekannt, aber gleichzeitig war sie eine Fremde für mich. »Das ist doch nicht möglich.«
Kirsten atmete tief ein und aus. Dann warf sie ihrer Tante einen hilfesuchenden Blick zu.
»Wann hast du Ellen zuletzt gesehen?«, fragte Karla sanft.
»Das letzte Mal war …« Ich unterbrach mich. Es war fast zwei Jahrzehnte her, und ich hatte nie mit jemandem über diese Begegnung gesprochen. Ich konnte es nicht ertragen, sie mir in Erinnerung zu rufen, nicht einmal jetzt. Das letzte Mal, dass ich Ellen gesehen hatte, war zwei Tage nach ihrem Geburtstag gewesen. Am Morgen, bevor ich mit Ricky nach Südamerika flog.
Ich versuchte es erneut. »Das letzte Mal, dass ich sie …« Aber ich konnte es nicht. Ich konnte nicht darüber reden. John setzte sich neben mich. Er legte den Arm um mich, ließ seine Hand auf meiner Schulter ruhen. Es war ein tröstendes Gefühl. Ich spürte seinen Daumen an meinem Halsansatz. Mein Puls pochte dagegen. Ohne John wäre ich womöglich zusammengebrochen.
»Es war kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag«, sagte ich.
»Und du wusstest nicht, dass sie schwanger war?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie war nicht mehr schwanger. Sie hatte eine Abtreibung.«
»Nein«, sagte Kirsten. »Das hatte sie nicht. Das hat sie dir nur erzählt.«
Karla rückte mit ihrem Stuhl in meine Nähe und ergriff meine Hände. Ihre waren kühl und trocken. Sie streichelte meine Wange.
»Dich und Mrs Todd glauben zu lassen, sie hätte abgetrieben, war der beste Weg, ihr Baby vor ihrem Vater zu beschützen. Wenn ihr Geheimnis ans Licht gekommen wäre, wäre ihr Baby und auch dessen Vater in Gefahr gewesen, das wusste sie. Aber wenn sie euch glauben machte, dass sie die Schwangerschaft abgebrochen hatte, war diese
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