Das Dornenhaus
seiner Hand sah, beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Er lehnte das Gewehr an den kleinen runden Tisch, dann trat er zu uns und ergriff Ellens Hand.
»Ich weiß, dass du nicht erpicht auf eine große Party mit vielen Leuten warst«, sagte er. »Wie du siehst, habe ich dir deinen Wunsch erfüllt, Schätzchen. Und ein besonderes Dinner vorbereiten lassen. Für uns beide, nur für dich und mich.«
Ellen zitterte. Sie warf mir einen hilfesuchenden Blick zu, und ich sah Panik in ihren Augen.
»Und was ist mit Hannah? Wo soll Hannah sitzen?«
»Hannah ist nicht zu dieser Party eingeladen«, erwiderte Mr Brecht. Er führte Ellen zu einem der antiken Stühle, und sie setzte sich wie in Trance. »Es ist eine ganz exklusive Party. Nur du und ich, Ellen. Nur du und ich.«
»Aber …«
Mr Brecht sah mich an. »Würdest du jetzt nach Hause gehen, Hannah?«
Ich nickte.
Mr Brecht lächelte. Er faltete Ellens Serviette auseinander, schüttelte sie auf und legte sie auf ihren Schoß. Dann setzte er sich auf den zweiten Stuhl. Er nahm den Wein aus dem Kühler und füllte erst Ellens Glas, dann seines.
»Prost!«, sagte er auf Deutsch. »Auf dein Wohl.«
»Prost!«, wiederholte Ellen wie unter Hypnose.
»Du bist noch hier, Hannah?«, fragte Mr Brecht. Er griff nach dem Gewehr.
Ich löste mich aus meiner Starre und ging auf den Ausgang zu.
»Du brauchst dir wegen uns keine Sorgen zu machen, Hannah«, sagte er. »Wir sind völlig sicher. Falls jemand auftauchen sollte … dieser halb nackte Einbrecher zum Beispiel … bin ich gewappnet. Und diesmal werde ich ihn nicht verfehlen. Gute Nacht«, sagte er, wobei er das Gewehr tätschelte. »Heute bin ich in der richtigen Stimmung, ihn umzulegen.«
NEUNUNDFÜNFZIG
A uf dem Parkplatz am Fuß des Hügels angekommen, stiegen wir wieder in den Wagen, und John fuhr erneut die gewundene Straße hinauf. Vor dem Tor hielt er an. Die beiden Keiler auf den Säulen beobachteten uns mit ihren Steinaugen.
»Alles okay?«, fragte John.
Ich nickte, und er beugte sich aus dem Fenster, um den Klingelknopf der Gegensprechanlage zu drücken. Eine kurze Weile herrschte Stille, dann ertönte eine freundliche Frauenstimme durch den Lautsprecher.
»Hallo?«
»Das ist Karla!«, sagte ich. Ich beugte mich über John hinweg zum Fahrerfenster. »Hallo, Karla. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Ich bin Hannah, Ellens Freundin aus Cornwall.«
Vom anderen Ende der Gegensprechanlage war ein Rascheln zu hören.
»Hannah? Die kleine Hannah Brown?«
»Ja!«
»Mein Gott! Hannah, das ist aber eine schöne Überraschung, komm rein!«
John lächelte mich an, und ich lächelte ebenfalls. In die beiden Torflügel kam Bewegung, und sie glitten zur Seite. John lenkte den Wagen vorsichtig in die Auffahrt.
Als ich kurz zuvor Ellen gesehen hatte, war ich völlig überwältigt gewesen, jetzt fühlte ich mich wie betäubt, und mir war ein wenig schwindelig. Es war zu viel für mich gewesen, das Erlebnis dort oben auf dem Hügel, zu aufwühlend, zu verwirrend. Ich verstand es nicht. Es war mir unerklärlich, wie Ellen am Leben sein konnte. Ich wusste nicht, warum ich hier war. Ich wusste nicht, was ich empfinden und wie ich mich verhalten sollte. Ich war emotional völlig überfordert und fühlte mich seltsam ätherisch, wie ein Geistwesen und nicht wie ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Während sich der Wagen im getupften Schatten der Bäume die schmale Auffahrt hinaufschlängelte, dachte ich an Jago, der die letzten zwanzig Jahre in Schmerz und Einsamkeit versunken war. Ich fragte mich, wie ich ihm all das erklären sollte. Ob wir je wieder Freunde sein könnten, er und ich. War es möglich, dass wir uns wieder versöhnten? Würde es einen Weg geben, wieder an frühere Zeiten anzuknüpfen? Ich hatte das Gefühl, dass wir an einem Wendepunkt angekommen waren.
Die Auffahrt zog sich scheinbar endlos hin, in großen Schleifen wand sie sich durch den üppig grünen Park des Schlosses. Schließlich mündete sie dann doch auf den gekiesten Platz vor der großartigen Fassade des Schlosses. Karla stand am oberen Absatz einer breiten Steintreppe. Sie trug einen langärmeligen Kaftan über einem Badeanzug, Flipflops und einen breitkrempigen Strohhut.
Als sie mich aus dem Wagen steigen sah, winkte sie mir freudig zu. Dann eilte sie die Stufen hinab und umarmte mich herzlich. Sie musste Anfang sechzig sein, ihr Aussehen und ihre Art ließen sie aber wesentlich jünger erscheinen.
»Mein liebes
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